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Politik: BRASILIEN

Das organisierte Verbrechen unterwandert viele Fangruppen Von Philipp Lichterbeck aus Rio de Janeiro.

Die Signalrakete traf Kevin Beltrán ins Auge. Der 14-Jährige war Fan des Sportklubs San José aus der bolivianischen Stadt Oruro. Er stand, als das Geschoss ihn am 20. Februar tötete, im heimischen Stadion, um ein Spiel des Südamerika-Cups zwischen seinem Team und den Corinthians aus São Paulo zu sehen. Auf einem Video ist zu erkennen, wie die Rakete aus dem Gästefanblock abgefeuert wird und der Schütze sich mithilfe anderer Hooligans davonmacht. Die bolivianische Polizei nahm zwölf Corinthians-Fans fest – sie gehören zum Fanklub Treue Sperber. Nun hat sich ein 17-Jähriger aus São Paulo gemeldet und die Tat gestanden. Der südamerikanische Fußballverband entschied unterdessen, dass die Corinthians alle weiteren Heimspiele des Cups ohne Publikum austragen müssen.

Dass die Maßnahme zum Umdenken bei Brasiliens Hooligans führt, muss bezweifelt werden. Die Tat – obwohl im Nachbarland verübt – folgt einem Trend im brasilianischen Fußball. Rund um die Spiele der hiesigen Ligen werden immer wieder Menschen umgebracht: Ende 2012 zählte man rund 20 Tote. Die Opfer sind zumeist blutjung: 74 der 155 Fans, die laut Sportzeitung „Lance!“ zwischen 1988 und 2012 starben, waren zwischen elf und 20 Jahre alt.

„Die Fanklubs agieren heute wie militärische Einheiten“, erklärt der brasilianische Soziologe Maurício Murad. Er leitet ein Studienprojekt an der Universidade Estadual in Rio de Janeiro, für das er jahrelang die Fanszenen beobachtete. 2012 veröffentlichte er das Buch „Woher die Gewalt im Fußball kommt“. Murad konstatiert, dass bis zu sieben Prozent der organisierten Fans einem gewalttätigen Kern angehörten: „Es sind Jugendliche ohne Perspektiven, die Zugehörigkeit in einem urbanen Stamm suchen.“ Sie bereiteten sich in Kampfschulen auf die Schlachten mit rivalisierenden Fanklubs vor. So wie im März 2012, als 500 Fans im Norden São Paulos aufeinander losgingen und ein 21-Jähriger erschossen wurde. Hinter der Militanz stecke oft die Infiltration durch das organisierte Verbrechen, sagt Murad. Faktoren, die die Auseinandersetzungen verschärften, seien der gestiegene Drogenkonsum und die Möglichkeit, sich über das Internet zu verabreden. Strukturelle Probleme seien: die korrupte Polizei, fehlende Strafverfolgung, die Weigerung der Vereine, das Problem anzugehen, sowie die schlechte Infrastruktur rund um die Stadien.

Tatsächlich wird auch das Geschehen auf dem Rasen immer stärker von Aggressionen geprägt. Beim Finalrückspiel der Copa Libertadores 2012 in São Paulo weigerten sich die Spieler von Argentiniens CA Tigre nach der Halbzeit, wieder gegen den FC São Paulo aufzulaufen. Sie berichteten, Sicherheitskräfte hätten sie in der Umkleidekabine angegriffen und mit Pistolen bedroht. Zuvor hatte es auf dem Spielfeld eine Schlägerei gegeben.

Zwar wurde in Rio bereits 1991 eine Polizeieinheit gegründet, um die Fans in Schach zu halten. Doch Deeskalation gehört nicht zu ihren Stärken, stattdessen der Einsatz von Tränengas. Neu ist, dass nun auch Städte im brasilianischen Hinterland von Fangewalt betroffen sind, etwa Goiânia. Dass es aber bei der WM zu Krawallen kommen wird, glaubt Mauricio Murad nicht. Die Rivalitäten seien rein brasilianisch. Wie die Freundschaften. Zwischen Rios Vereinen Vasco da Gama und Botafogo war es früher üblich, dass die Fans des Siegerteams den Verlierern das Mittagessen spendierten.

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