zum Hauptinhalt
Der britische Premier David Cameron (rechts) in der BBC-Sendung "Question Time" zum Brexit, mit Moderator David Dimbleby

© Stefan Rousseau/dpa

Update

Brexit-Debatte im TV: Chamberlain-Vergleich bringt Cameron in Rage

Am Donnerstag stimmt Großbritannien ab, ob das Land in der EU bleiben soll. Nach vier Tagen ist der erbitterte Wahlkampf dazu wieder entbrannt, der nach dem Mord an der Abgeordneten Jo Cox ausgesetzt worden war.

Vier Tage vor dem Referendum über ein Ausscheiden Großbritanniens aus der EU hat Regierungschef David Cameron die wegen des Mordes an der proeuropäischen britischen Abgeordneten Jo Cox eingelegte Wahlkampfpause am Sonntag mit der Warnung beendet, dass ein EU-Austritt "unumkehrbar" wäre.

Der britische Premierminister stellte sich am Sonntagabend im BBC-Fernsehen den Fragen eines Studiopublikums. Ob das EU-Referendum die Debattenkultur in Großbritannien vergiftet habe, fragt ihn ein Mann gleich zu Beginn. Cameron nimmt das nicht zum Anlass, die Brexit-Befürworter der Gegenseite anzugreifen - zu groß wäre die Gefahr, sich den Vorwurf einzufangen, den Tod der 41-jährigen Cox politisch ausnutzen zu wollen. Stattdessen setzte Cameron zu einem Appell für Toleranz an und leitete dann rasch zu seinem Lieblingsthema über: Wirtschaft. Es ist stets die gleiche einfache Formel: Großbritanniens Wirtschaft würde durch einen Brexit schrumpfen, dadurch gäbe es weniger Arbeitsplätze und weniger Steuereinnahmen - und das eben "unumkehrbar".

Immer wieder versuchte Moderator Dimbleby, das Thema Migration in den Mittelpunkt zu stellen - und immer wieder antwortete Cameron mit den Erfordernissen und Folgen für die Wirtschaft und appellierte an den gesunden Menschenverstand. Der Internationale Währungsfonds, die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), die Bank of England, alle kämen sie zu dem gleichen Schluss - ein Brexit sei schlecht für Großbritanniens Ökonomie.

Als ein Mann Cameron mit dem ehemaligen britischen Premier Neville Chamberlain verglich, der es durch seine Appeasement-Politik versäumt hatte, den Expansionsgelüsten Hitlers Einhalt zu gebieten, wurde Cameron sauer. Und das kam beim Publikum durchaus gut an. Die Europäische Union sei nicht mit Diktaturen aus der Vergangenheit zu vergleichen, sagte Cameron. Er sehe sich in der Tradition Winston Churchills und wolle für eine bessere EU kämpfen, statt sich davonzuschleichen - großer Beifall.

Hat den Rechtspopulisten hat die Unterbrechung "Dynamik" genommen?

Nach Auffassung des britischen Rechtspopulisten Nigel Farage hat die Brexit-Kampagne durch den Mord an der britischen Labour-Politikerin Jo Cox an Dynamik eingebüßt. Das sagte der Chef der euroskeptischen Ukip-Partei am Sonntag in einer Talkshow des Fernsehsenders ITV. Grund sei die mehrtägige Wahlkampf-Pause nach dem Verbrechen: „Wir hatten eine gute Dynamik entwickelt, bevor es zu dieser furchtbaren Tragödie kam“.

Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck hofft darauf, dass Großbritannien nicht aus der Europäischen Union austritt. In der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“ sagte Gauck am Sonntag, die Briten hätten die freie Entscheidung. Er betonte aber: „Ich hoffe, dass sie bei uns bleiben.“ Auf die Frage nach einem möglichen Dominoeffekt eines Brexit sagte Gauck: „Ich gehöre nicht zu den Katastrophen-Propheten und selbst beim ärgsten Ausgang wird es Kräfte in Europa geben und auch übrigens im Vereinigten Königreich, die das, was wir gemeinsam geschaffen haben, nicht plötzlich auf den Haufen werfen.“ Ein „altes Europa der einzelnen Nationen, die wieder miteinander wetteifern bis hin, dass sie sich gegenseitig bekämpfen, das Wasser abgraben oder gar bekriegen“, sei „doch keine wirklich gute Vision“.

Dabei bleiben! Der Musiker Bob Geldof beteiligte sich an einem Protest gegen Brexit-Befürworter, die mit Fischerbooten für den Austritt aus der EU demonstrierten.
Dabei bleiben! Der Musiker Bob Geldof beteiligte sich an einem Protest gegen Brexit-Befürworter, die mit Fischerbooten für den Austritt aus der EU demonstrierten.

© Facundo Arrizabalaga/dpa

Viele Briten fürchten wirtschaftliche Konsequenzen eines EU-Ausstiegs

Die Briten stimmen am Donnerstag über einen Verbleib in der EU ab. In den letzten Umfragen vor dem Verbrechen hatte das Brexit-Lager mit bis zu sechs Punkten in Führung gelegen. In der ersten Umfrage seit dem tödlichen Angriff haben sich die EU-Befürworter wieder vor das Brexit-Lager geschoben. Am Sonntag veröffentlichte die "Mail On Sunday" eine Umfrage des Instituts Survation vom Freitag und Samstag: Demnach wollen 45 Prozent der Briten am Donnerstag für den EU-Verbleib stimmen, und nur noch 42 Prozent für den Brexit. Damit hätte sich der Trend gedreht. Die Website What UK Thinks ermittelt fortwährend Durchschnittswerte der letzten sechs veröffentlichten Umfragen. Hatte dieser am Donnerstag die EU-Gegner noch mit vier Punkten in Führung gesehen, so lagen am Sonntag beide Lager wieder bei 50 Prozent.

Welche Rolle das Attentat dabei gespielt haben könnte, ist unklar. Experten des Meinungsforschungsinstituts YouGov meinten, der Stimmungsumschwung sei der wachsenden Sorge vor wirtschaftlichen Konsequenzen eines Brexit geschuldet.

Der frühere schottische Regierungschef Alex Salmond sagte der Zeitung "Herald Scotland", das Attentat auf Cox könnte eine "bedeutende Auswirkung" haben. Der Tatverdächtige Thomas Mair war am Samstag des Mordes beschuldigt worden. Bei dem Gerichtstermin rief er, anstelle seinen Namen zu nennen: "Tod den Verrätern! Freiheit für Großbritannien!" Das Attentat auf offener Straße hatte Großbritannien in eine Schockstarre versetzt, die erbittert geführten Kampagnen für oder gegen den Brexit wurden bis einschließlich Samstag ausgesetzt.

Der Wahlkampf um den Brexit begann am Sonntag so scharf wie zuvor

Cameron sagte der Zeitung "The Times", die Briten stünden "vor einer existenziellen Wahl ohne Möglichkeit zur Umkehr". "Sind Sie einmal aus dem Flugzeug gesprungen, ist es unmöglich, wieder einzusteigen. Wenn man geht, ist es für immer", führte der konservative Regierungschef aus. Er verglich die Brexit-Wortführer Boris Johnson und Michael Gove mit "verantwortungslosen Eltern, die ihre Familie in ein Auto mit kaputten Bremsen und undichtem Tank setzen".

Johnson - Camerons ärgster parteiinterner Widersacher - sagte der "Sun on Sunday", die Briten hätten "nichts zu befürchten", sondern "eine einmalige Chance, sich die Kontrolle zurückzuholen". Die Menschen müssten "für die Demokratie und für die Hoffnung stimmen", sagte Justizminister Gove - und meint damit für den Brexit.

Umstritten. Ein Plakat des Rechtspopulisten Nigel Farage, das Flüchtlinge als Bedrohung von EU und Großbritannien in Szene setzt, geht selbst manchen Brexit-Befürwortern zu weit.
Umstritten. Ein Plakat des Rechtspopulisten Nigel Farage, das Flüchtlinge als Bedrohung von EU und Großbritannien in Szene setzt, geht selbst manchen Brexit-Befürwortern zu weit.

© Facundo Arrizabalaga/dpa

Finanzminister George Osborne, der mit Camaron für den Verbleib kämpft, übte scharfe Kritik an einem Wahlkampfplakat Farages. Auf dem kurz vor dem Attentat veröffentlichten Plakat sind lange Schlangen von Flüchtlingen auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise an der österreichischen Grenze zu sehen. Überschrieben war das Plakat mit „Breaking Point, the EU has failed us all“ - Die Grenze der Belastbarkeit, die EU hat uns alle enttäuscht. Das Plakat sei "widerlich und abscheulich", es erinnere ihn an „extremistische Literatur" und "die Nazi-Propaganda der 30er Jahre", sagte Osborne. Selbst der Chef der offiziellen Brexit-Kampagne, Michael Gove, sagte am Sonntag, er sei angesichts des Plakats „erschaudert“.

Mehrere britische Sonntagszeitungen gaben ihre Empfehlungen ab. Die "Sunday Times" und der "Sunday Telegraph" sprachen sich für den Brexit aus. Anders die "Financial Times, die "Mail on Sunday" und der "Observer", die davor warnten, "Frieden und Wohlstand" für "gefährliche Illusionen" aufs Spiel zu setzen. (AFP/dpa)

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false