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Flaggen in Brüssel.

© dpa

Brexit, Grexit und die FPÖ: Europa muss endlich aus seinen Krisen lernen

Statt sich an Krisen anzupassen, grenzt die Europäische Union aus, was vermeintlich nicht zu ihr gehört. Sie ignoriert den Widerspruch - und verstärkt ihn so. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Moritz Schuller

Europas aktuelle Krise: In wenigen Wochen ist Großbritannien aus der EU raus und in Österreich ein rechtspopulistischer Bundespräsident an der Macht. Die nächste Krise, nach Euro und den Flüchtlingen, und wieder ist ganz Europa in Gefahr.
Diese Zuspitzung ist vor allem Kalkül, denn nur in der politischen Ausnahmesituation sind die Regelbrüche, die Entmachtung der Parlamente, die Ermächtigungen finanzpolitischer Institutionen, das Aussetzen europäischer Absprachen zu rechtfertigen.

Das Wort senkt die Hürden: In der Krise muss man bereit sein, dramatische Schritte zu wagen. Denn zum Narrativ der Krise gehört, dass sie ein Übergangsphänomen ist: Noch dieses eine Rettungspaket für Griechenland, nur noch dieses eine Referendum gewinnen, und dann ist alles gut. Gefragt ist ein großer, einmaliger Kraftakt, mit dem Europa dann endlich krisensicher ist.

„Die Demokratie hat triumphiert, ist aber nicht erwachsen geworden“

Doch das Bild ist falsch. Mit der Krise als Ausnahmezustand und Gegenpol zur normalen Lage werden Erwartungen geweckt – und enttäuscht, wenn diese Krisen nicht verschwinden. Diese Enttäuschungen sind in Europa inzwischen groß: Laut des britischen Meinungsforschungsinstituts Ipsos Mori sind 45 Prozent der Europäer heute dafür, dass in ihrem Land ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft veranstaltet wird. Ein Drittel wäre dann bereit, für einen Austritt zu stimmen. In Italien sind es sogar 48 Prozent, die für einen Austritt stimmen würden, in Frankreich sind 41 Prozent für einen „Fraxit“.

Krisen sind politischer Alltag. Sie sind, schreibt der britische Politologe David Runciman, strukturelles Element der Demokratie: „Wir wurschteln uns durch, weil wir wissen, dass Durchwurschteln in der Vergangenheit ausgereicht hat; wir wissen auch, dass das Durchwurschteln das Risiko eines Kontrollverlusts erhöht. Dieses Dilemma bleibt unaufgelöst.“ Runciman nennt das die Zuversichts-Falle der Demokratie („The Confidence Trap“, Princeton University Press). Wir machen Fehler und trotzdem Fortschritte, oder, wie Runciman schreibt: „Die Demokratie hat triumphiert, ist aber nicht erwachsen geworden.“

Die europäische Vorgehensweise ist eine andere: Hier werden Krisen nicht als Rückkopplungen verstanden, aus denen man lernen kann, sondern immer als Bedrohung für die Glaubwürdigkeit der Gesamterzählung. Deshalb werden Krisen zu unangenehmen, aber letztlich bedeutungslosen Umleitungen heruntergespielt – das Ziel steht. Das Durchwurschteln, das Variabilität bedeutet und auch, dass Fehler – wie beim Euro – korrigiert werden, wird als Ausnahmezustand deklariert und jede Alternative als Häresie diskreditiert. Die europäische Erzählung lebte von der Illusion, dass Europa das Ende aller Krisen sei.

Doch Griechenland ist keine Krise, die am Ende in einer langen Brüsseler Sitzung gelöst werden könnte. Die Euro-Krise ist Ausdruck eines Konflikts, der so lange andauern wird, wie sich die ökonomischen Strukturen innerhalb des Kontinents dramatisch unterscheiden. Auch das britische EU-Referendum kann nicht „gewonnen“ werden. Es ist Ausdruck eines historischen Unbehagens der Briten an der Union. Schon vor vierzig Jahren gab es eine solche Abstimmung – und auch nach dem Referendum im Juni wird das Thema nicht vom Tisch sein.

Das große Integrationsprojekt Europa hat Abgrenzung bewirkt

Die Europäische Union hat sich nicht an ihre Krisen angepasst. Sie hat vielmehr ausgegrenzt, was vermeintlich nicht zu Europa gehört, und die Warnungen ignoriert. So ist in Europa mit der Zeit das, was angeblich nicht zu Europa gehört, immer größer geworden: Aus einer wütenden Margaret Thatcher, der nicht zugehört wurde, ist so ein Großbritannien geworden, das kurz vor dem Austritt steht; aus der FPÖ, die die EU vor Jahren noch isolieren konnte, ist eine Partei geworden, die in Österreich die Macht übernehmen könnte; aus Frankreich, dem historischen Kern Europas, wurde so ein Land, in dem 41 Prozent aus der EU rauswollen. Es ist paradox, aber das große Integrationsprojekt Europa hat das Gegenteil bewirkt: die Abgrenzung.

Diese Krisen sind in Wahrheit historische Anpassungsprozesse, sie sind Machtkämpfe und Ausdruck von Interessenkonflikten unterschiedlichster Art. All die Krisen und gescheiterten Referenden waren Widerspruch, der nie ernst genommen wurde, aber von allein auch nicht verschwand. Europa besteht aus Europäern , aus ambivalenten Briten und FPÖ wählenden Österreichern, aus finanzpolitisch lässigen Griechen und besserwisserischen Deutschen. In diesem Sinne ist die Geschichte der Europäischen Union nur als fortgesetzte Krise vorstellbar. Dazu muss man sich durch die Realität durchwurschteln, statt an einem Ideal festzuhalten. Solange Europa aber keine Fehler machen darf, macht es auch keinen Fortschritt.

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