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Der ehemalige Londoner Bürgermeister und Brexit-Befürworter Boris Johnson.

© AFP

Brexit oder Remain: Großbritannien ist keine funktionierende Gesellschaft

Markus Hesselmann hat vor wenigen Tagen eine Liebeserklärung an Großbritannien verfasst. Das war dem Briten Kit Holden zu viel. Ein Brexit wäre für ihn kein Spaß, sondern der Zusammenbruch des britischen Charmes. Eine Replik.

Es gibt gerade einen populären Witz über Brexit und Klischees. Weil wir Briten es so lieben, in der Warteschlange zu stehen, werden wir für den EU-Austritt stimmen. Dann werden wir bei der Passkontrolle im Flughafen länger anstehen müssen.

Hohoho. Da ist er wieder, der weltberühmte englische Humor. Die liebe, britische Selbstironie. Großartig.

Es wäre einfach, das bevorstehende Referendum nur als weitere britische Eigentümlichkeit zu verstehen. Wie die Queen, Krocket oder Weihnachtspudding ist das mögliche Brexit zwar unverständlich, aber am Ende auch nicht so ernst zu nehmen. Auch wenn wir gehen, wird Großbritannien immer noch als charmanter, demokratisch-vernünftiger Nachbar da sein.

Der Ansatz ist verlockend, aber fatal. Das Referendum ist weder selbstironisch noch einen Ausdruck unserer pragmatischen, demokratischen Tradition. Brexit wäre der Zusammenbruch des britischen Charmes. Es wäre der Verfall der britischen Vernunft. Es wäre das Ende der britischen Humor.

In manchen Ländern ist es einfach, eine zivilgesellschaftliche Krise wahrzunehmen. In Frankreich gehen sie in schlechten Zeiten allzu gerne auf die Barrikaden. In Großbritannien, wo wir uns lieber zurückhalten, ist es schwerer, eine tiefe, soziale Verrottung zu erkennen.

Zeitungen wirken wie Pegida-Propaganda

Dieses Referendum ist der Beweis, dass Großbritannien längst keine funktionierende Gesellschaft mehr ist, vor allem auf diskursivem Niveau. Auch in den ruhigsten Zeiten wirkt unser Parlament wie ein Kinderspielplatz, unsere größten Zeitungen wie Pegida-Propaganda. Vor dem Referendum ist es noch hässlicher geworden.

Der Mangel einer halbwegs akzeptablen Diskussionskultur ist auch der Grund, warum ein Brexit überhaupt auf die Tagesordnung gekommen ist. Er führte unter anderem dazu, dass New Labour ihre offene Immigrationspolitik nie wirklich erklärt hatte. Dass sich das Volk kaum in die Politik einmischt. Vor einem Jahr wollte der damalige Justizminister Michael Gove das Gesetz über Menschenrechte von 1998 abschaffen. Beim Protest vor der Downing Street waren nicht einmal 200 Menschen dabei.

Von einem solchen Diskursvakuum profitieren nur Populisten. Menschen wie Gove, der mittlerweile einer der prominentesten Brexit-Befürwörter ist. Wie seine Kollegen Boris Johnson oder Nigel Farage beruht sein bisheriger Erfolg darauf, dass er auf Bauchgefühl statt Pragmatismus setzt. So konnte er in einer Fernsehdebatte behaupten, die britische Bevölkerung habe "die Schnauze voll von Experten".

Von der britischen Kultur ist nicht mehr viel übrig

Übrigens wollte Gove damals nicht alle Menschenrechte abschaffen, sondern ein neues, “British Bill of Rights” skizzieren. Das ist eine klassisch-britische Denkweise, die sich davon abhängt, zwei widersprüchliche Dinge gleichzeitig zu glauben. Der Immigrant aus Polen nimmt mir meinen Job, bekommt aber auch Arbeitslosengeld. Die EU-Gesetze schränken uns furchtbar ein, aber wir würden sie selber genauso schreiben, wenn sie nicht schon da wären. George Orwell hat es damals "Doublethink" genannt.

Stichwort Orwell: Was ist mit der berühmten britischen Kultur? Ich bin zwar stolz darauf, aber auch zu jung, um es wirklich zu kennen. Als Teenager habe ich zum Beispiel in Sheffield und London nach dem Geist der Smiths und The Clash gesucht. Vergeblich. Die Städte und ihre großen Kulturgeschichten ertrinken immer schneller in der stickigen Apathie des wahnhaften Konsumerismus.

Und die stolze demokratische Tradition? Großbritannien mag einer der ältesten Demokratien der Welt sein. Wer aber alt ist, ist oft auch krank. Das zeigt sich in unserem lächerlich altmodischen Wahlsystem. Das zeigt sich auch darin, dass die Wähler 2011 die überfällige Wahlreform abgelehnt haben.

Brexit wäre ein Verrat an Churchill und Joe Strummer

Es gibt Dinge, die ich mir von meinem Land wünschte. Dass es ein vernünftiges Wahlsystem einführt. Dass es in der europäischen Integration eifrig mitmacht. Dass es sich für die Versklavung eines Viertels der Welt endlich entschuldigt. Solche Sachen werde ich nie erleben, und das ist auch ok so. Für ein Volk, das seit der Restauration der Monarchie 1660 fast immer auf dem Status Quo setzt, sind sie einfach zu radikal.

Deswegen ist das Brexit-Gespenst so furchtbar. Ausgerechnet jetzt könnten die Briten ihre lange Tradition des Nichtsmachen zu einem hässlichen Ende bringen. Wenn sie das machen, wäre das nichts weniger als Verrat. Sie hätten Winston Churchill verraten, der 1946 als einer der Ersten für eine europäische Gemeinschaft plädiert hatte. Sie hätten Joe Strummer verraten, indem sie ihre Revolution von Rechtspopulisten führen ließen. Sie hätten vor allem Europa verraten, das gerade nichts weniger braucht, als einen Brexit.

Wenn sie es wirklich machen, machen sie es nicht mit Humor oder Charme. Ein Brexit wäre ja so humorlos wie die Deutschen. Scherz.

Die Liebeserklärung an Großbritannien von Markus Hesselmann können Sie hier noch einmal nachlesen.

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