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Politik: Brücke über rauem Wasser

Von Gerd Appenzeller

Zeit heilt alle Wunden – das ist eine der widersprüchlichsten Volksweisheiten, die es gibt, weil sie so tröstlich klingt und doch kaltschnäuzig wirken kann. 60 Jahre sind seit dem Kriegsende vergangen, und für viele Menschen ist es doch wie heute, für jene, für die der 8. Mai mit Leid verbunden war, wie für jene, denen dieser Tag das Ende des Leids bedeutete. Seit 40 Jahren gibt es diplomatische Beziehungen zwischen Israel und Deutschland. Etwas mehr als eine Generation ist das gerade einmal in den Berechnungen der Bevölkerungsstatistiker – aber wie unendlich viel und furchtbar wenig doch, wenn man an das Leid denkt, das Deutschland über die europäischen Juden gebracht hat. Der israelische Staatspräsident Mosche Katsav, der Berlin gestern wieder verließ, hat an beides erinnert. Er war in eine Stadt gekommen, deren Name für Deutschlands dunkelste Stunden genauso steht wie für seinen Freiheitswillen, für den demokratischen Neubeginn und schließlich für die Wiedervereinigung. Mosche Katsav in Berlin, das waren historische Stunden besonders gerade da, wo sie in Gesten anrührend waren.

Am Dienstagabend, in der Philharmonie, kam einer dieser Momente, als der israelische Staatspräsident nicht nur Bundespräsident Horst Köhler begrüßte, sondern auch dessen beide Vorgänger, Roman Herzog und Richard von Weizsäcker – und bewegt eine kurze Begegnung mit dem immer noch schwachen Johannes Rau schilderte, der an dem festlichen Konzert nicht teilnehmen konnte. Rau hatte in seiner Amtszeit die Einladung an Mosche Katsav ausgesprochen, Horst Köhler sie unlängst bei seinem Israelbesuch erneuert. In seiner Rede vor der Knesset hatte Köhler vor vier Monaten gemahnt, Antisemitismus und Rassismus entschlossen zu bekämpfen. Daran knüpfte Katsav in seiner Ansprache an den Bundestag im Reichstagsgebäude an.

Nur acht Jahre liegen zwischen dem ersten Besuch eines israelischen Staatsoberhauptes und dem nun beendeten. Ezer Weizmann hatte im Januar 1996 in einer Diskussion mit Jugendlichen, ebenfalls in Berlin, noch, Widerspruch nur schwer ertragend, festgestellt, „der einzige Ort, an dem ein Jude Jude sein kann, ist in Israel“. Ignatz Bubis, der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden, hatte dazu bemerkt: „Ich habe keinen Grund, Deutschland zu verlassen.“ Nun nannte Katsav Deutschland einen „echten Freund“.

Er nutzte seine Rede vor den Abgeordneten zu einem bewegenden Appell an die islamisch-arabische Welt, die historische Chance eines Nahostfriedens nicht vorbeigehen zu lassen. Als er die Sorge vor einer antimuslimischen Welle als Reaktion auf den extremen Islamismus in einem Zusammenhang mit der Gefahr des Antisemitismus benannte, baute er damit rhetorisch eine Brücke zwischen all denen, die in der Region nach Frieden streben. Und noch eines zeichnete diese Rede aus, ähnlich der Ezer Weizmanns vor dem gleichen Kreis 1996, aber drängender und werbender – versöhnende Gedankentiefe über die Zeiten hinweg. Mosche Katsav, 1945 als achtes Kind einer jüdischen Familie in Iran geboren, erinnerte daran, dass hundert Generationen seiner Familie seit der Zerstörung des Tempels in Iran gelebt hatten. Ein Iran, der keine existenzbedrohenden Feinde in der Region hat und dessen Politiker dennoch Hass gegen Israel predigen.

Aufrüttelnde Reden wie diese zur Lage im Nahen Osten wurden früher nur in Washington gehalten. Jetzt war erstmals Berlin der Schauplatz, weil die Stimme Deutschlands, anders als die Amerikas, nicht nur in der jüdischen, sondern auch in der arabischen Welt gehört wird. Das steht für Vertrauen, Hoffnung, vor allem aber für deutsche Verantwortung. Zwischen 1965 und 2005 liegen 40 Jahre. Für den Beginn der diplomatischen Beziehungen stehen die Namen David Ben Gurion und Konrad Adenauer. Beide hatten in ihren Ländern damals große Widerstände zu überwinden. Die gibt es heute nicht mehr. Von den Wunden von einst sind Narben geblieben – und das Bewusstsein, das alles verletzlich und gerade deshalb besonders schutzbedürftig ist.

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