zum Hauptinhalt

Türkei: Buch über islamistische Unterwanderung wird Bestseller

Seit dem Machtantritt der religiös-konservativen Regierungspartei AKP haben Säkularisten den Verdacht, dass religiöse Kreise die Türkei unterwandern. Ein neues Buch gibt dieser alten Angst neue Nahrung.

Leise und vorsichtig postierten sich die Polizisten vor dem Hotelzimmer in Ankara. Durch einen Tipp hatten die Beamten erfahren, dass sich dort ein Drogenkurier aufhalten sollte. Doch als sie das Zimmer aufbrachen und stürmten, bot sich ihnen ein völlig anderes Bild: Vor ihnen lag ein hochrangiger – und verheirateter – General der türkischen Luftwaffe mit seiner Geliebten im Bett. Wenig später bekam die Presse Wind von der Sache, und der General musste zurücktreten.

Hanefi Avci glaubt nicht, dass es bei der Polizeiaktion im März vergangenen Jahres um Drogen ging. „Es war eine erfolgreiche Operation“, schreibt Avci, ein angesehener und erfolgreicher Polizeioffizier in einem neuen Buch, das in der Türkei zu einem Beststeller geworden ist. „Es war eine Operation der Religiösen.“

"Der Staat wird nicht von regulären Beamten gelenkt"

In dem 600-Seiten-Wälzer „Die Simons am Goldenen Horn“ vertritt Avci die These, dass Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen zu einem Marsch durch die Institutionen des türkischen Staates angetreten sind und Polizei, Justiz und sogar die Armee infiltriert haben. Die Islamisten bedienen sich demnach allerhand schmutziger Tricks und hochmoderner Abhör- und Überwachungstechnik, um Gegner aus dem Weg zu räumen, indem sie ihre Karrieren zerstören.

Seit dem Machtantritt der religiös-konservativen Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan im November 2002 haben türkische Säkularisten den Verdacht, dass religiöse Kreise die Republik unterwandern. Nun gibt Avci dieser alten Angst neue Nahrung. „Mir bietet sich ein Furcht erregendes Bild“, schreibt Avci. „Der Staat wird nicht von regulären Beamten gelenkt.“

Immer mehr konservativere Türken streben nach oben

Was Avci und die Säkularisten als islamistische Machtergreifung sehen, ist nach Meinung einiger Beobachter die Folge eines sozialen Wandels in der Türkei. Lange Zeit besetzten die Säkularisten alle wichtigen Posten im Staat, doch nun streben immer mehr konservativere Türken nach oben: Selbst Ämter wie das des Staatspräsidenten und des Ministerpräsidenten werden inzwischen von frommen Muslimen besetzt.

Die Säkularisten haben das Gefühl, dass „der Staat aus der Hand gleitet“, wie es häufig beschrieben wird. Die Konservativen sind dagegen der Meinung, dass staatliche Spitzenposten erstmals für Leute außerhalb der traditionellen Eliten geöffnet werden. „Es geht um eine Auseinandersetzung zwischen den Kräften des Status Quo und der Veränderung“, sagt der Istanbuler Soziologe Ferhat Kentel.

Avci sieht die Gülen-Leute fast hinter jedem Strauch

Avcis Buch ist Teil dieses Machtkampfes. Mit dem Titel will er sagen, dass die meisten Türken nichts von der Gefahr wissen, die ihnen angeblich droht: „Simon“ war der Deckname eines kurdischen PKK-Rebellen, der für Avci den Typus des rücksichtslosen Ideologen verkörperte. Den Bezug auf das Goldene Horn wählte er, weil sich die Bewohner der lange Zeit übelriechenden Flussmündung in der Istanbuler Altstadt so an den Gestank des Wassers gewöhnt hatten, dass er sie nicht mehr weiter störte. Allein in den ersten sechs Tagen nach seinem Erscheinen am 20. August verkaufte sich das Buch 60.000 mal, eine beachtliche Zahl für türkische Verhältnisse.

Avci sieht die Gülen-Leute fast hinter jedem Strauch. Hinsichtlich der Motive und Beweismittel von Polizei und Staatsanwaltschaft bei Ermittlungen gegen mutmaßliche Putschisten in den Reihen der Armee setzt er ebenso Fragezeichen wie beim Skandal um den langjährigen Oppositionschef Deniz Baykal, der vor weinigen Monaten über ein heimlich aufgenommenes Sex-Video stolperte.

Frust über ausgebliebene Beförderung?

Kritiker werfen Avci allerdings vor, keine konkreten Beweise für seine teils abenteuerlichen Behauptungen vorgelegt zu haben. Merkwürdig ist auch, dass er zwar überall im Land Verschwörer am Werk sieht – aber ausgerechnet die Ermordung des armenischstämmigen Journalisten Hrant Dink, bei der es tatsächlich viele Hinweise auf eine Verwicklung staatlicher Behörden gibt, als normales und zur Gänze aufgeklärtes Verbrechen betrachtet.

Der in den USA lebende Prediger Fethullah Gülen, der laut Avci hinter der islamistischen Unterwanderung steckt, ließ die Vorwürfe des Polizeioffiziers dementieren und verwies darauf, dass er in einem Prozess wegen angeblicher islamistischer Umtriebe höchstinstanzlich freigesprochen worden sei. Die unabhängige Zeitung „Taraf“, die in den vergangenen Jahren mehrere mutmaßliche Putschpläne der Armee aufdeckte, spekulierte, dass der 54-jährige Avci sein Buch aus Frust über ausgebliebene Beförderungen geschrieben hat.

"Sie können mir das Leben zur Hölle machen"

Viele Türken sind überzeugt, dass in ihrem Land mehr Telefonate abgehört werden als anderswo. Nicht immer betreffen die Vorwürfe aber die Regierung oder mutmaßliche Islamisten. Vor wenigen Tagen berichtete „Taraf“, der Generalstab in Ankara habe über Jahre rund 2000 Bürger illegal abgehört, darunter Intellektuelle und Journalisten, die für ihre kritische Haltung gegenüber den Militärs bekannt sind.

Avci ahnte gleich bei Erscheinen seines Buches, dass sein Werk bei der religiös-konservativen Regierung in Ankara wenig Begeisterung hervorrufen würde. Er bat um Versetzung von seinem Posten als Polizeichef der westtürkischen Provinz Eskisehir auf einen Schreibtischposten bei der Polizeizentrale in Ankara – ein Wunsch, der innerhalb weniger Stunden erfüllt wurde. Das Innenministerium lässt inzwischen prüfen, ob Avci gegen die beamtenrechtliche Vorschriften verstoßen hat. Er selbst rechnet fest mit Schwierigkeiten, wie er in einem Fernsehinterview sagte: „Sie können mir das Leben zur Hölle machen.“

Zur Startseite