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46 Merkmale sollen Politikern helfen, die Wirksamkeit ihrer Entscheidungen und Maßnahmen für die Lebensqualität der Bürger künftig jährlich zu überprüfen.

© Zjirousek/iStock

Bürgerdialog "Gutes Leben in Deutschland": Echolot ins Bürgertum

Reisend und im Dialog mit Bürgern hat die Bundesregierung einen Wunschkatalog und Maßstäbe für „gutes Leben“ gesammelt.

Von Robert Birnbaum

Es war beim zweiten Bürgerdialog der Kanzlerin über das „Gute Leben in Deutschland“, als Angela Merkel in Rostock auf ein weinendes palästinensisches Mädchen traf. Womit also schon mal klar ist: Wirkung gezeigt hat das Projekt unfreiwillig bereits im frühen Stadium. Gut ein Jahr später ist es jetzt abgeschlossen, am Mittwoch liegt dem Kabinett der „Bericht der Bundesregierung zur Lebensqualität in Deutschland“ vor. Auch das Mädchen Reem taucht indirekt darin auf. Aber sein Schicksal und die Sicht der Deutschen auf Flüchtlinge sind am Ende nur ein Randaspekt. Hauptsächlich verfolgt das Projekt ein anderes Ziel: Statt den Leuten zu erklären, was sie wichtig zu finden haben, hat die Regierung die Leute zur Abwechslung selber gefragt.

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Das Verfahren hat einer der Beteiligten einmal mit einem Echolot verglichen. Das ist ein nützliches Gerät für Seefahrer, die wissen wollen, wo unter der Oberfläche die Untiefen und die Abgründe lauern. Der Vergleich kommt der Sache recht nahe. Ein halbes Jahr lang sind Kanzlerin Angela Merkel und ihre Minister 2015 durchs Land gereist zu Bürgerdialogen, eine Webseite war geschaltet, am Ende haben 15.750 Bürger mitgemacht. Ihre Wünsche, Aussagen und Anregungen hat ein Wissenschaftlerteam thematisch geordnet und in zwölf Kategorien zusammengefasst, die so etwas wie den Wunschkatalog der Deutschen an die Politik ergeben: „Sicher und frei leben“ findet sich da ebenso wie „Bildungschancen für alle“ oder „Natur erhalten, Umwelt schützen“.

Richtig neu ist das meiste nicht, streng wissenschaftlich repräsentativ auch nicht – dafür, sagt einer, der an führender Stelle mitgewirkt hat, sei bei allem Streben nach breiter Einbindung die Auswahl der Teilnehmer letztlich doch zu speziell: „Da haben sich überwiegend Menschen beteiligt, die sich auch sonst für das Gemeinwesen interessieren.“

Zeitpolitik ist den Bürgern wichtiger als von der Regierung erwartet

Trotzdem sind die Macher zufrieden. Erstens haben sie etwas gelernt – das Bedürfnis nach Verfügung über die eigene Zeit zum Beispiel sei offenbar weit stärker ausgeprägt als gedacht. Zweitens können sie sich zugute halten, dass die große Koalition als erste Regierung weltweit versucht hat, ein Echosignal für Lebensqualität per direktem Bürgerdialog zu ermitteln. Vor allem aber hoffen sie, für die Zukunft ein Messinstrument geschaffen zu haben, mit dem Bürgerwünsche und Politikerwille besser als bisher in Übereinstimmung zu bringen sind.

Damit knüpft die Bundesregierung an weltweite Versuche etwa der UN, der EU oder der Weltbank an, neben harten Fakten wie Einkommen oder Kriminalitätsrate auch „weiche“ Faktoren für Lebensqualität zu messen. Das klingt wie ein Beschäftigungsprogramm für Sozialwissenschaftler, kann aber handfeste Folgen haben. Wenn es nach der Regierung geht, wird der „Gut leben“-Bericht künftig in jeder Wahlperiode neu erstellt.

46 Merkmale sollen helfen, die Wirksamkeit von Politik zu prüfen

Über die Zeit ließe sich dann in vielen Momentaufnahmen nachverfolgen, wie sich beispielsweise nicht nur die harten Tatsachen der Kriminalität entwickelt haben – sondern auch die „weiche“ Furcht davor. Für Verkehrsplaner und Bauminister sollen künftig nicht mehr nur die Milliarden zählen, die sie für Straße und Schiene ausgeben, sondern auch das relativ „weiche“ Kriterium der Pendeldauer. Denn der Bericht hat gezeigt, dass es vielen Menschen wichtig ist, wie lange ihr Weg zur Arbeit dauert.

Im Idealfall sollen Politiker anhand der 46 identifizierten Merkmale kontrollieren können, ob ihre Maßnahmen etwas bewirken. Umgekehrt können Bürger nachlesen, wo ihre Politik Lücken und Defizite lässt. Eine Rangskala nach Wichtigkeit stellt der Bericht nicht auf – zwar seien, sagt ein Mitwirkender, von den Bürgern Begriffe aus den Feldern „Frieden“, „Freiheit“ und „Teilhabe an Arbeit, Einkommen und Gesellschaft“ am häufigsten genannt worden, doch für eine Prioritätenliste tauge das Instrument nicht. Das Echolot zeigt Berge und Abgründe, misst sie aber nicht aus.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) beugt sich am 15.07.2015 während eines Bürgerdialogs zu dem weinenden palästinensischen Mädchen Reem.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) beugt sich am 15.07.2015 während eines Bürgerdialogs zu dem weinenden palästinensischen Mädchen Reem.

© dpa/NDR

Was die Politik nicht hindert, schon vorab ihre Lieblingsberge und -täler zu den wichtigsten zu erklären. Merkel hat in ihrem Video-Podcast die drei Wunschkategorien hervorgehoben, die in anderen Mess-Skalen für Lebensqualität nicht vorkamen: Zeitmanagement, freie Entfaltung der Persönlichkeit und Sicherheit. Die Bundesfamilienministerin findet die Vereinbarkeit von Familie und Beruf am wichtigsten, die Arbeitsministerin die soziale Gerechtigkeit, die Umweltministerin den Klimaschutz und der Außenminister – na klar, was sonst: den Weltfrieden und die internationale Verantwortung.

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