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Tag für Tag versammeln sich in Bulgarien Demonstranten, um den Rücktritt der Regierung zu fordern. Die meisten sind jung. Aber diese ältere Dame sagt mit ihrer Trillerpfeife vor zwei Polizisten genau das gleiche: Rücktritt.

© AFP

Bulgarien: Demonstranten belagern Politiker im Parlament

Seit Wochen gehen junge Bulgaren gegen den Sumpf der Korruption und ihre neue Regierung auf die Straße. Die Koalition aus Ex-Kommunisten und der türkischen Regionalpartei gilt den Demonstranten als Ausdruck der ganzen Misere ihres Landes.

Die Nacht gefangen im Parlament hat für die Abgeordneten des bulgarischen Parlaments in Sofia bis morgens um drei Uhr gedauert. Erst dann gelang es der Polizei die Politiker aus ihrem von Demonstranten belagerten Parlament zu befreien. Seit Wochen gehen jeden Abend Hunderte, oft aber auch Tausende Menschen in der bulgarischen Hauptstadt gegen den Sumpf der Korruption, gegen die Herrschaft der Oligarchen und ihre engen Verbindungen mit der organisierten Kriminalität auf die Straße. Als Ausdruck des verhassten Regimes gilt ihnen die neue Regierung, die nach der Wahl im Mai zu regieren versucht. Seit seinem Amtsantritt von Plamen Orescharski fordern die Demonstranten täglich seinen Rücktritt.

Plamen Orescharski hat aus der ehemaligen kommunistischen Partei, die inzwischen als Sozialistischen Partei (BSP) firmiert und der türkischen Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS) eine Koalition gezimmert, deren erste Tat im Parlament am Dienstagabend eine Erhöhung des Budgets für 2013 hätte sein sollen. Eine weitere Milliarde Euro neuer Kredite wollte sich das Parlament genehmigen. "Das ist unmöglich", sagt Marga Bileva, die bei der der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Sofia die politische Lage in Bulgarien analysiert. Die Demonstranten, "überwiegend junge Leute, die ganz spontan demonstrieren", wie Bileva sagt, hätten die Befürchtung, "dass ein Teil dieser Mittel in die Wahlkämpfe der Regierungsparteien fließen soll". Die rund 2000 Protestierenden in Sofia umzingelten schon am frühen Abend das Parlament - und dabei blieb es bis drei Uhr morgens am Mittwoch. Sie riefen "Rücktritt" und "Mafia, Mafia".

In der Nacht zum Mittwoch rief der bulgarische Parlamentspräsident Michail Mikow die Abgeordneten auf, dem Plenarsaal vorerst fernzubleiben. „Das Leben und die Gesundheit der Volksvertreter dürfen nicht gefährdet werden“, sagte er. Zuvor hatte die Polizei mit einem massiven Aufgebot eine Blockade des Parlaments durch regierungsfeindliche Demonstranten aufgelöst. Die dort festsitzenden rund 100 Minister, Abgeordneten, Gewerkschafter und Journalisten wurden in Sicherheit gebracht. Bei Zusammenstößen mit Demonstranten wurden nach Angaben des Staatsradios zehn Menschen verletzt, darunter zwei Polizisten. Marga Bileva berichtet, dass Demonstranten sich gegen 23 Uhr vor einem Bus auf die Straße vor dem Parlament gesetzt hätten, andere umzingelten den Bus, in dem eine Gruppe von Parlamentariern und Journalisten saß. Bei der Blockade gingen die Scheiben des Busses zu Bruch. Die Polizei habe auf die sitzenden Demonstranten eingeschlagen, die meisten seien mit Kopfverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Am Mittwochmorgen verstieg sich Innenminister Tsvetlin Yovchev im bulgarischen Fernsehen zu der Aussage: "Das ist kein Protest, das ist ein Pogrom". In einem anderen Sender präsentierten derweil bulgarische Intellektuelle ihre Kopfverletzungen von der Nacht zuvor.

Die Protestbewegung verlangt seit dem 14. Juni den Rücktritt der Regierung aus Sozialisten und der Partei der türkischen Minderheit DPS. Auch der ehemalige bürgerliche Regierungschef Boiko Borisow (Gerb) forderte den sofortigen Rücktritt der Regierung. „Nur so können die Menschen beruhigt werden“, sagte er der Nachrichtenagentur Focus. Staatspräsident Rossen Plewneliew rief die Demonstranten auf, „friedlich und zivilisiert“ zu bleiben. Im Februar hatte die Regierung von Boiko Borisow nach monatelangen Protesten das Handtuch geworfen. Die vorgezogene Parlamentswahl im Mai brachte eine politische Pattsituation hervor.

Marga Bileva hofft trotzdem, dass es im Herbst erneut zu vorgezogenen Neuwahlen kommt. "Ich bin sehr stolz, dass die junge Generation aufgestanden ist gegen die oligarchischen Strukturen", sagte sie dem Tagesspiegel. Allerdings sei es sehr schwierig, eine politische Alternative aufzubauen. Mehrere bürgerliche Parteien bemühen sich darum, für vorgezogene Wahlen, die sie alle fordern, einen "bürgerlichen Reformblock" zu bilden, berichtet Bileva. Bei den Wahlen in diesem Jahr hatten sich diese Parteien separat bemüht, ins Parlament zu kommen, scheiterten aber an zu wenig Stimmen. Die Konrad-Adenauer-Stiftung unterstütze diese Bemühungen auch. Dass ein solches Bündnis eine die Demonstranten überzeugenden Alternative wäre, ist allerdings zu bezweifeln. Denn die Zeit, sich als wählbare Alternative zu präsentieren, wäre denkbar kurz. Bileva vermutet, dass diese neue, spontane demokratische Opposition in Bulgarien eher zu einem Wahlboykott aufrufen würde, oder Borisow dann doch als "kleines Übel" zurück an die Macht wählen könnte.

Die Vizepräsidentin der EU-Kommission, Viviane Reding, hat am Dienstag vor der Eskalation vor dem Parlament zum politischen Dialog aufgerufen. „Stoppt den politischen Streit“, appellierte Reding am Dienstag in Sofia an die beiden großen Parteien. Reding traf sich in Sofia auch mit protestierenden Bürgern. „Ich möchte nicht, dass andere Staaten in Europa für meine korrupte Regierung bezahlen“, sagte ein Teilnehmer unter großem Beifall. (mit dpa/AFP)

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