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Politik: Bulgarische Spezialitäten

Die Regierung in Sofia ist fast nicht handlungsfähig. Der Präsident entzieht ihr öffentlich sein Vertrauen – und täglich demonstrieren Zehntausende.

Sofia - Sorgenvoll blickte Michail Mikov, Präsident der 42. Bulgarischen Volksversammlung, am Freitagmorgen zur Anzeigetafel im Sitzungssaal des Parlaments. „120 zu 240“ stand dort. Er forderte die anwesenden Volksvertreter auf, erneut den Registrierungsknopf auf ihrem Pult zu betätigen, dann wurde endlich die erhoffte 121 angezeigt, das nötige Parlamentsquorum war erreicht und die Sitzung konnte beginnen. Vor dem Parlamentsgebäude skandierten währenddessen hunderte Protestierer „Mafia!, Mafia!“ und forderten den Rücktritt des Kabinetts von Premier Plamen Orescharski.

Seitdem vor drei Wochen die Regierung den umstrittenen Medienmogul Deljan Peevki zum Chef des Geheimdienstes Dans machen wollte, ziehen allabendlich zehntausende Demonstranten durch die Straßen von Sofia. Seit zehn Tagen trifft sich auch morgens ein harter Kern zur Blockade von Bulgariens Parlamentsgebäude. „In der Einheit liegt die Kraft“, steht über dessen Paradeeingang geschrieben, doch selten klang die patriotische Sentenz ironischer als in diesen Tagen: Bulgariens Gesellschaft ist gespalten wie seit den 1990er Jahren nicht mehr.

120 Abgeordnete stützen die Koalitionsregierung der sozialistischen BSP mit der Partei der türkischen Minderheit DPS. Die als stärkste politische Kraft aus den Parlamentswahlen im Mai hervorgegangene Partei GERB von Ex-Ministerpräsident Boiko Borissov boykottiert die Parlamentssitzungen. So ist die regierende Parlamentshälfte stets darauf angewiesen, dass sich zumindest ein Abgeordneter der nationalistischen Ataka registrieren lässt. Das hat in den vergangenen Wochen mal funktioniert und mal nicht. Wie der Ministerpräsident sein als „Orescharski-Plan“ vorgelegtes Regierungsprogramm umsetzen will, wenn er bei jedem Versuch, ein Gesetz durchs Parlament zu bringen, von der Willkür des unberechenbaren Ataka-Führers Volen Siderov angewiesen ist, wird immer rätselhafter.

Auch die europäischen Genossen der bulgarischen Sozialisten haben die fatale Abhängigkeit der Regierung von Ataka inzwischen als ernsthaftes Problem erkannt. „Sie sollte sich von Ataka abgrenzen, diese Partei teilt nicht unsere Werte und wir können ihre nicht teilen“, sagte Hannes Swoboda, Fraktionsvorsitzender der Progressiven Allianz aus Sozialisten und Demokraten vor einer Debatte zur Situation in Bulgarien im EU-Parlament in der vergangenen Woche.

„Ich entziehe der Regierung mein Vertrauen“, hatte Staatspräsident Rossen Plevneliev vor drei Wochen in einer Rede an die Nation als Reaktion auf die Ernennung Peevskis zum Geheimdienstchef gesagt. „Vorgezogene Parlamentswahlen sind die einzige demokratische Lösung für die Krise, in der wir uns befinden“, forderte Plevneliev nun am Donnerstag in einer erneuten Ansprache. Die Regierung und ihre Unterstützer sehen darin eine für einen Präsidenten unzulässige Parteinahme, Ataka-Führer Siderov droht gar mit der Anstrengung eines Amtsenthebungsverfahrens. Von den Protestierenden erhielt der Präsident am Freitagabend dagegen offenen Szenenapplaus.

„Zehntausende auf den Straßen Sofias sind nicht das ganze bulgarische Volk“, lautet die Sprachregelung der Regierung, mit der sie ihren Versuch begründet, die Proteste auszusitzen. Noch sträubt sie sich gegen die Aufforderungen an die beiden großen Parteien GERB und BSP, im nationalen Interesse irgendwie zu kooperieren. Zuletzt meldete sich am Sonntag der einflussreiche Führer der Gewerkschaft Podkrepa, Konstantin Trentschev, ultimativ zu Wort: „Wenn die politischen Kräfte der 42. Volksversammlung keine vernünftige Lösung vorschlagen, ist die Gewerkschaft Podkrepa im Recht, zur Verteidigung der Interessen ihrer Mitglieder und ihrer Mitbürger den Generalstreik auszurufen.“ Frank Stier

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