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Shimon Peres 2010 im Bundestag: "Eine einzigartige Freundschaft"

Als Präsident Israels hielt der jetzt gestorbene Shimon Peres am Holocaust-Gedenktag 2010 eine viel beachtete Rede im Deutschen Bundestag. Wir dokumentieren hier Auszüge.

Auszüge aus der Rede des Präsidenten des Staates Israel, Shimon Peres, im Deutschen Bundestag am 27. Januar 2010, dem Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts (Shoa):

Ich stehe heute vor Ihnen als Präsident des Staates Israel, der Heimstätte des jüdischen Volkes.

Und während es mein Herz zerreißt, wenn ich an die Gräueltaten der Vergangenheit denke, blicken meine Augen in die gemeinsame Zukunft einer Welt von jungen Menschen, in der es keinen Platz für Hass gibt. Eine Welt, in der die Worte "Krieg" und "Antisemitismus" nicht mehr existieren.

(...)

... im Staat Israel und überall auf der Welt weilen immer weniger Überlebende der Shoa unter uns. Ihre Zahl nimmt täglich ab.

Und gleichzeitig leben auf deutschem Boden, in Europa und anderswo auf der Welt noch immer Menschen, die damals dieses schrecklichste Ziel verfolgten - den Völkermord. Ich bitte Sie: tun Sie alles, um diesen Verbrechern ihre gerechte Strafe zu erteilen.

In unseren Augen handelt es sich nicht um Rache. Es geht um Erziehung. Es sollte eine Stunde der Gnade für die jüngeren Generation sein. Die Jugend muss sich erinnern, darf nicht vergessen und muss wissen, was geschehen ist. Sie darf niemals, wirklich niemals, an etwas anderes glauben, sich andere Ziele setzen als Frieden, Versöhnung und Liebe.

Heute begehen wir den internationalen Gedenktag für die Opfer der Shoa. Genau heute vor 65 Jahren schien nach sechs Jahren Dunkelheit zum ersten Mal die Sonne. Die ersten Sonnenstrahlen legten das Ausmaß der Zerstörung, die mein Volk erlitten hatte, für alle bloß.

An diesem Tag stieg der Rauch noch aus den Krematorien auf, und Blut und Asche bedeckten das Lager Auschwitz-Birkenau. Jetzt war es still auf dem Bahnsteig. Die "Selektionsrampe" war menschenleer. Im Tal des grauenhaften Mordes breitete sich trügerische Ruhe aus. Das Ohr nahm nur die Stille wahr, doch aus den Tiefen der vereisten Erde wurde ein Schrei hörbar, der das menschliche Herz zerriss und bis zum gleichgültig schweigenden Himmel aufstieg.

Der 27. Januar 1945 kam zu spät. Sechs Millionen Juden waren bereits nicht mehr unter den Lebenden. Dieser Tag symbolisiert nicht nur die Erinnerung an die Ermordeten, nicht nur das Schuldgefühl der Menschheit im Angesicht dieser nicht fassbaren Schreckenstaten, sondern auch die Tragödie des Versäumnisses.

Dies ist unsere Lehre aus einer Zeit, als die in Flammen lodernde Welt derartig abgelenkt war, dass die Mordmaschine tagein-tagaus weiterarbeiten konnte, jahrein-jahraus, ungestört.

(...)

Zu welchen Gräueltaten ist der Mensch fähig? Wie kann er seinen moralischen Kompass abstellen? Die Logik lähmen? Wie kann ein Volk sich als "Herrenrasse" betrachten, und den Mitmenschen als null und nichtig?

Noch heute stellt sich die Frage, weshalb die Nazis in der Existenz der Juden eine solche Gefahr und Bedrohung sahen. Was brachte sie dazu, in diese Todesindustrie derart viel zu investieren? Wieso setzten die Nazis ihren Plan bis zum bitteren Ende fort, obwohl die Niederlage sich schon längst am Horizont abzeichnete? Waren die Juden eine Bedrohung für das "Tausendjährige Reich"? Konnte ein verfolgtes Volk, von den Stiefeln der Täter zertrampelt, die mörderische Kriegsmaschine der Nazis aufhalten? Wie viele Divisionen standen den Juden Europas zur Verfügung? Wie viele Panzerwagen, Kampfflugzeuge, wie viele Gewehre?

Shimon Peres (1923 - 2016) am 27. Januar 2010 im Deutschen Bundestag
Shimon Peres (1923 - 2016) am 27. Januar 2010 im Deutschen Bundestag

© dpa/Wolfgang Kumm

Meine Damen und Herren,

der Hass der Nazis lässt sich durch reinen "Antisemitismus" nicht erklären. Der Antisemitismus ist ein abgedroschener Begriff und keine Erklärung für die mörderische, bestialische Begeisterung, die zwanghafte Entschlossenheit des Nazi-Regimes, die Judenheit auszurotten.

Der eigentliche Zweck des Krieges war doch die Erlangung der Macht über Europa und nicht die Begleichung einer historischen Rechnung mit den Juden.

(...)

Als Jude trage ich für immer den Stempel des Schmerzes über den Mord an meinen Brüdern und Schwestern. Als Israeli beweine ich die tragische Verzögerung der Entstehung des Staates Israel, weswegen mein Volk ohne Zufluchtsstätte blieb.

Als Großvater kann ich den Verlust von 1,5 Millionen Kindern nicht verschmerzen - das ungeheure menschliche Potenzial, ohne dessen Verlust das Schicksal Israels anders ausgesehen hätte.

Ich bin stolz darauf, dass wir der Erzfeind der Nazi-Verbrechen sind. Ich bin stolz auf das Erbe unserer Väter - das Gegenteil jeder Rassenlehre. Ich bin stolz auf die Gründung des Staates Israel, die moralische und historische Antwort auf den Versuch, das jüdische Volk von der Erde zu tilgen.

Ich danke dem Allerheiligsten für diejenigen Völker, die diesem Wahnsinn, dem Bösen und der Grausamkeit ein Ende setzten.

Die Shoa muss dem menschlichen Gewissen stets als ewiges Warnzeichen vor Augen stehen; als Verpflichtung zur Heiligkeit des Lebens, zur Gleichberechtigung aller Menschen, zu Freiheit und Frieden. Die Ermordung der Juden Europas durch Nazi-Deutschland darf nicht als  ein astronomisches "schwarzes Loch" betrachtet werden, als ein Todesstern, der das Licht schluckt und die Vergangenheit gemeinsam mit der Zukunft verschlingt.

(...)

Zwischen Deutschland und Israel hat sich seither eine einzigartige Freundschaft entwickelt.

Diese Freundschaft führt aber nicht dazu, dass wir die Shoa vergessen, sondern wir sind uns der Finsternis, die im Todestal der Vergangenheit herrschte, bewusst;  auch im Angesicht der gemeinsamen, klaren Entscheidung, unseren Blick nach vorne zu richten - zum Horizont der Hoffnung und in eine bessere Welt.

Die Brücke über dem Abgrund wurde mit schmerzenden Händen und Schultern, die dem Gewicht der Erinnerung kaum standhielten, aufgebaut und sie steht auf starken, moralischen Grundfesten.

Unseren ermordeten Brüdern und Schwestern haben wir ein lebendiges Mahnmal errichtet: Mit den Pflügen, die eine Wüste in fruchtbare Plantagen umwandeln. Mit Labors, die neues Leben entdecken. Mit Waffen, die unsere Existenz sichern. Und mit einer kompromisslosen Demokratie.

Wir waren und sind der Überzeugung, dass das neue Deutschland alles in seiner Macht Stehende tun wird, damit der jüdische Staat sich nie mehr alleine einer Gefahr ausgesetzt sehen muss. Mörderische und überhebliche Diktaturen sollen ihr böses Haupt nicht wieder erheben dürfen.

(...)

Ich stehe heute vor Ihnen im Glauben, dass es in Ihrer und auch unserer Macht steht, den Lauf der Geschichte zu ändern. Ich glaube daran, dass der Frieden in Reichweite ist. Drohungen gegen Israel werden uns nicht von diesem Weg abbringen.

Ich stehe heute vor Ihnen als Sohn eines Volkes, das bereit ist, alles Menschenmögliche zu tun, um eine bessere Welt zu schaffen, in welcher der Mensch dem Menschen ein Mensch ist.

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