zum Hauptinhalt
Horst Seehofer beim Interview vor der Kulisse des Reichstags.

© Gregor Fischer/dpa

Update

Bundestagswahl: Seehofer verwirrt mit Aussagen zur Obergrenze

Eine Beschränkung des Flüchtlingszuzugs war ein Top-Thema der CSU. Kurz vor der Wahl wackelt ihr Chef. Martin Schulz kritisiert ihn scharf.

Von
  • Antje Sirleschtov
  • Robert Birnbaum

CSU-Chef Horst Seehofer hat am Wochenende mit Aussagen über eine Obergrenze für Flüchtlinge für Wirbel gesorgt. Mehrere Sätze des bayerischen Ministerpräsidenten im Sommerinterview der ARD legten die Interpretation nahe, dass er darin keine Bedingung mehr für eine Koalition nach der Bundestagswahl sieht. „Die Situation hat sich verändert, der Kurs in Berlin hat sich verändert“, sagte Seehofer am Sonntag in Berlin. „Wir haben jetzt deutlich weniger Zuwanderung als zu dem Zeitpunkt, wo ich dieses Zitat gebracht hatte.“ Damit bezog er sich auf seine Ankündigung, er werde keinen Koalitionsvertrag ohne Obergrenze unterschreiben. Allein „die politische Existenz“ dieses Instruments habe die Situation verändert. „Damit bin ich zufrieden.“

Nach der Aufzeichnung des Interviews, das am Sonntagabend ausgestrahlt wurde, fühlte Seehofer sich falsch verstanden, als die ersten Meldungen die Runde machten, er rücke von einer Obergrenze ab. "Wir garantieren, dass dieser Dreiklang kommt: Humanität, Integration, Begrenzung", stellte Seehofer klar. "Wenn ich das sage, gilt das. Kein Abrücken von der Obergrenze. Die 200.000 bleiben." Als unverrückbare Koalitionsbedingung führte der CSU-Chef die Obergrenze trotzdem nicht mehr an. Es war ein klassischer Seehofer: etwas insinuieren, aber eben nicht wortwörtlich sagen.

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz kritisierte den bayerischen Ministerpräsidenten wegen dieses Verwirrspiels scharf: „Für Horst Seehofer ist Politik nur Taktik. Er spielt mit Themen. Und er spielt mit Menschen“, sagte Schulz dem Tagesspiegel. Jahrelang habe der „Obergrenzen-Zoff in der Union“ die Politik der Bundesregierung blockiert. Damit sei viel Vertrauen verspielt worden. Auch deshalb kämpfe die SPD dafür, „dass die CSU der nächsten Bundesregierung nicht mehr angehört“, sagte Schulz.

Seehofer: "Wir sind jetzt nicht verliebt in Zahlen"

Bereits am Sonnabend hatte Seehofer bei einem Wahlkampfauftritt in Neubrandenburg eine Kursveränderung angedeutet. „Wir sind jetzt nicht verliebt in Zahlen“, versicherte Seehofer in seiner Rede in Mecklenburg-Vorpommern. Und ob das Ding Obergrenze heiße für Flüchtlinge oder Kontingente, sei ihm völlig wurscht. „Aber die Begrenzung ist Voraussetzung für das Gelingen von Integration!“

Das Publikum applaudiert gemessen. Es sind vielleicht 400 zumeist ältere Herrschaften, ihr Klatschen verliert sich auf dem riesenhaften Marktplatz. Von daheim ist Horst Seehofer deutlich mehr Zulauf gewohnt. Aber in Neubrandenburg kann selbst ein bayerischer Ministerpräsident im Wahlkampf keine Massen mobilisieren, die es hier schlechterdings gar nicht gibt. Außerdem sind noch Schulferien.

Nur zwei Auftritte außerhalb Bayerns

Seehofer beschränkt seine Wahlkampfauftritte diesmal eigentlich auf Bayern. Dass er einen seiner nur zwei Ausflüge jenseits der weiß-blauen Landesgrenzen ausgerechnet hier im kargen Nordosten absolviert, hängt mit dem Mann zusammen, der hinten auf der Bühne energisch mitklatscht. Philipp Amthor, ein junger Spund von gerade mal 24 Jahren, will als neuer Direktkandidat den Wahlkreis für die CDU halten.

Den Gast aus dem Süden empfängt er als Gleichgesinnten, nämlich einen, der sich „nicht durch überzogene politische Korrektheit verbiegen“ lasse. Amthor, muss man dazu wissen, war vor Jahresfrist einer der Initiatoren des Konservativen Kreises im Land. Angela Merkel hat als Landeschefin die Gründung gebilligt, auch wenn sich die Truppe scharf gegen den Modernisierungskurs wendet, den sie als Bundesvorsitzende in ihrer CDU befördert.

Merkel bat um die Hilfe

Merkel war es dann auch, die Seehofer persönlich um diesen Auftritt gebeten hat. Es gibt einfach Situationen, da kennt eine CDU-Chefin keine Widersacher mehr, sondern nur noch Parteifreunde. In Amthors Wahlkreis ist die Situation gegeben. Der CDU-Platzhirsch tritt aus Altersgründen nicht mehr an. Jetzt hat auf einmal nicht nur die SPD, sondern sogar der AfD-Kandidat echte Chancen, den Christdemokraten das Direktmandat abzujagen. Der Amthor gibt sich zwar viel Mühe, schimpft über Veggie-Grüne und preist „Bratwurst und Erntefest“ als den wahren Kern mecklenburgischer Lebensart. Aber allein schon der rostige grüne VW-Bus, den er als Wahlkampfvehikel einsetzt, lässt ahnen, wie beschränkt seine Mittel sind.

Merkel bietet alles auf, um ihm zu helfen. Vier junge Leute aus ihrem eigenen Wahlkreisteam sind am Samstagabend mit einem flotten BMW rübergebraust. Demnächst kommt Volker Kauder, danach Wolfgang Schäuble. Mehr Bundesprominenz geht nicht, ohne dass es peinlich wird.

Aber Horst „Obergrenze“ Seehofer taugt als AfD-Drachentöter natürlich besonders gut. Vielleicht deshalb bleibt die „Alternative“ am Samstagabend fast unsichtbar. Nur ein alerter Sonnenbrillenträger grölt ab und an etwas von „Grenze schließen!“ dazwischen, woraufhin die Jugend am SPD-Wahlkampfstand die „Internationale“ vom Band abspielt. Man muss das in diesem Zusammenhang womöglich als eine Art relativer Solidaritätsbekundung unter Demokraten deuten. Seehofer sagt ja auch fast nichts Böses über die SPD, nur dass es mit den Sozialdemokraten manchmal halt schwierig sei, zu vernünftigen Sicherheitsgesetzen zu kommen.

Das Wort Vaterland fällt ziemlich oft

Ohnehin sieht sich enttäuscht, wer einen dröhnenden Bierzelt-Auftritt erwartet hätte. „Ich komme aus dem friedliebenden Stamm der Bayern“, stellt sich der Gast vor. Sicher, er betont auch, dass sich Zuwanderer an „unsere Leitwerte“ zu halten hätten und nicht an die in Afrika oder Arabien gültigen: „Man muss mit uns leben wollen und nicht neben uns oder gegen uns.“ Er bringt angesichts der Anschlagserie der letzten Tage auch die Forderung aus dem Bayern-Programm vor, zur Entlastung der Polizei Soldaten zur Objektsicherung einzusetzen: „Wer als demokratisch gesinnter Politiker für einen starken Staat eintritt, ist noch lange kein Rechtsradikaler!“ Auch das Wort „Vaterland“ fällt ziemlich oft.

Aber viel mehr liegt ihm gerade hier daran, ein ums andere Mal zu versichern, dass zwischen ihm und Merkel jetzt, wo sich „in Berlin“ der Flüchtlingskurs ja doch deutlich geändert habe, wieder echter Friede herrsche, beste, ja engste Zusammenarbeit. „Wenn einer alles vergisst, ist er arm dran“, zitiert er eine Volksweisheit unbekannter Herkunft, „wenn einer nichts vergessen kann, ist er noch ärmer dran.“ Es gab den Streit, aber jetzt habe man sich verständigt, und das sei das Entscheidende.

„Obergrenze“ als Koalitionsbedingung? 200.000 Menschen und keinen mehr? Alles wurscht auf einmal. Und außerdem, die Angela und er, die kennten sich ja schließlich schon aus dem Kabinett von Helmut Kohl, sie damals Ministerin für Frauen und für Umwelt, er zuständig für die Gesundheit: „Wir könnten Ihnen doch gar nichts vormachen!“ Er guckt dabei mit so treuen Augen hinter dem Rednerpult hervor, dass unten auf den Bänken einige unwillkürlich nicken müssen. Allein dafür hat sich der Einsatz im Norden doch schon gelohnt. (mit Reuters, dpa)

Zur Startseite