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Bundesverfassungsgericht: Schwerkrimineller kommt nicht sofort frei

Das Verfassungsgericht hat über den Eilantrag eines Schwerkriminellen entschieden. Er hatte seine sofortige Freilassung gefordert und sich dabei auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Sicherheitsverwahrung berufen.

Es ist die kriminalpolitisch heikelste Aufgabe der Koalition: Eine Reform der umstrittenen Sicherungsverwahrung. Jetzt hat das Bundesverfassungsgericht Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) etwas Luft verschafft. Es wies den Eilantrag eines Inhaftierten ab, der sich auf ein jüngst rechtskräftig gewordenes Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) berufen hatte. Die Begründung: Der Mann, ein Schwerkrimineller mit Verurteilungen wegen sexueller Nötigung, Erpressung und Menschenhandel, könne auch den Ausgang eines Hauptverfahrens in Karlsruhe abwarten. Setzte man ihn jetzt auf freien Fuß und müsste ihn später eventuell doch wieder in Sicherungsverwahrung nehmen, sei das Risiko zu groß. In diesem Fall überwiege das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit das Freiheitsgrundrecht des Betroffenen, entschied das Gericht in seinem am Freitag veröffentlichten Beschluss.

Das Gericht lässt eine Tendenz erkennen, die jedoch keineswegs für alle Fälle gelten muss. Jeder Sicherungsverwahrte hat eine andere Vorgeschichte, ist in einer anderen Situation. Dennoch zeigt das Gericht, dass es seine eigenen Urteile in der Sache weiterhin ernst nehmen will. Anders als der EGMR hat es das rigide deutsche System zum Schutz vor gefährlichen Tätern bislang gebilligt. Hauptargument: Die Sicherungsverwahrung ist keine Strafe im klassischen Sinne, sondern eine „Maßregel“. Der Gesetzgeber dürfe deshalb über sie freier befinden.

Der jetzt abgewiesene Kläger ist kein Einzelfall. Er wurde 1996 verurteilt und bekam zugleich anschließende Sicherungsverwahrung. Das „Wegschließen“, üblicherweise in normalen Zellen, aber mit einigen Privilegien, war damals noch auf zehn Jahre befristet. Zwei Jahre später wurde die Frist aufgehoben – ausdrücklich auch für Menschen, die schon in der Sicherungshaft saßen. Der EGMR sieht darin einen Verstoß gegen das Verbot rückwirkender Strafen. Die Bundesrepublik ist als Unterzeichner der Europäischen Menschenrechtskonvention verpflichtet, das Urteil umzusetzen. Betroffen sind rund ein Drittel der über 500 in Deutschland Verwahrten, möglicherweise sogar mehr. Sie könnten über kurz oder lang auf freien Fuß kommen. Die wenigsten Rechtsexperten rechnen damit, dass sich das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich gegen das EGMR-Urteil wenden wird. Da es aber das Thema nachträglicher Bestrafung berührt, ist indirekt auch die nachträglich verhängte Sicherungsverwahrung betroffen. Auch über diese Form der Haftanordnung wird derzeit vor dem EGMR gestritten; möglicherweise wollen die Karlsruher Richter dem vorgreifen.

Die deutsche Justizministerin sieht sich in einem Dilemma: Einerseits will sie ihre Ansprüche an eine liberale Rechtspolitik erhalten und muss das EGMR-Urteil berücksichtigen, andererseits will die Union die Verwahrung eher verschärfen. Demnächst will die Ministerin einen Entwurf vorlegen. Wie er auch aussieht, die „Altfälle“ jedenfalls werden wohl in Freiheit kommen müssen.

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