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Bundeswehreinsatz: Erst Fremdsprache, dann Schießen

Bevor deutsche Soldaten schießen, müssen sie in Englisch, Dari oder Paschtu warnen

Von Michael Schmidt

Berlin - Wo die Gefahr am größten ist, wächst der Sarkasmus. Das gilt auch für die Bundeswehr im Auslandseinsatz. In der Truppe kursiert ein Witz. Frage: Woran erkennt man einen toten Bundeswehrsoldaten? Antwort: An den Taschenkarten neben der Leiche.

Die sogenannten Taschenkarten, die es zu zahlreichen Themen gibt – Erste Hilfe, Schusswaffengebrauch und anderes – sind die Kurzfassung der Einsatzregeln, die der Soldat stets bei sich führen soll. Strenge Vorschriften, die jetzt nach dem Tod von drei Bundeswehrsoldaten in Afghanistan erneut in die Kritik geraten sind – und vom Verteidigungsministerium einer Prüfung unterzogen werden. Wie ein Sprecher von Minister Franz Josef Jung (CDU) sagte, befasse sich die Abteilung Recht derzeit „routinemäßig“ mit den Regeln für den Schusswaffengebrauch. Nach Auffassung derer, die wie FDP-Verteidigungsexperte Rainer Stinner und SPD-Politiker Rainer Arnold seit langem schon eine „Anpassung der Taschenkarte an die Einsatzrealität“ fordern, ist der Hintergrund der Untersuchung jedoch die aktuelle Situation in Afghanistan: Die zunehmende Zahl von Gefechten und die wachsende Unsicherheit unter den Soldaten über ihre Befugnisse.

Im Fall der „Taschenkarte zu den Regeln für die Anwendung militärischer Gewalt“ für die in Afghanistan eingesetzten Bundeswehrsoldaten ist das Wort „Kurzfassung“ eine nur bedingt zutreffende Beschreibung: In der nach wie vor gültigen Version vom Oktober 2006 füllt der detaillierte Text sieben Din-A-4-Seiten. Danach dürfen Soldaten militärische Gewalt zur Nothilfe, zur Selbstverteidigung und zur Auftragserfüllung einsetzen. Allerdings nur nach Androhung: „Stop, or I will fire“, müssen die Soldaten auf Englisch einen bevorstehenden Gebrauch von Schusswaffen androhen. Und weil nicht vorausgesetzt werden kann, dass das Gegenüber des Englischen mächtig ist, ist der Anruf auch in den Landessprachen Dari beziehungsweise Paschtu zu wiederholen: „Melgäro Mellatuna – dreesch, ka ne se dasee kawum.“ Das bedeutet: „Vereinte Nationen – stehenbleiben, oder ich schieße!“ Das wichtigste Wort ist „dasee“, es heißt schießen und wird mit weichem „s“ ausgesprochen – auch dieser Hinweis ist auf der Taschenkarte vermerkt. Dieses Androhungsgebot – Motto: erst lesen, dann warnen, dann schießen – gehe an der Realität einer Gefechtssituation vorbei und sei zum Beispiel bei einem Einsatz von Scharfschützengewehren mit einer Reichweite von bis zu 1000 Metern schlicht nicht praktikabel.

SPD-Verteidungspolitiker Arnold kritisiert zudem, dass die Bundeswehr „nur reaktiv tätig werden kann“. Dass der Einsatz von Waffen nur unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit erfolgen dürfe, sei selbstverständlich. Dass er gegen Schwangere, Behinderte und Kinder auf das „geringstmögliche Maß“ zu beschränken sei, dürfte sich in der Tat jeder Soldat denken. Laut Taschenkarte dürfen die Soldaten Schusswaffen nicht gegen flüchtende Personen einsetzen, „die erkennbar von ihrem Angriff abgelassen haben“. Das sei „völlig widersinnig“, sagt FDP-Politiker Stinner, der gern darauf hinweist, dass ein Berliner Polizeibeamter mehr Rechte habe: der dürfe auf einen Flüchtenden schießen, der dringend verdächtig ist, ein Verbrechen begangen zu haben.

Grünen-Verteidigungsexperte Winfried Nachtwei, der grundsätzlich eine Präzisierung der Taschenkarte befürwortet, „um einem subjektiven Gefühl von Rechtsunsicherheit“ auf Seiten der Soldaten zu begegnen, warnt an dieser Stelle: „Schießen auf Verdacht“ könne nicht die Lösung sein. Er empfehle nochmals die genaue Lektüre der Taschenkarte. Der Soldat sei keineswegs zu nur reaktivem Handeln verdammt: Geeignete Abwehrmaßnahmen, heißt es da, dürften auch ergriffen werden, „wenn ein Angriff unmittelbar bevorsteht.“

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