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Caritas-Präsident Neher: ''Wir brauchen eine Kindergrundsicherung''

Caritas-Präsident Peter Neher fordert mehr Geld für Familien und Arme – und Geduld mit der Agenda 2010.

Vorige Woche hatte die Agenda 2010 ihren fünften Jahrestag: Wie ist Deutschland vorangekommen?

Die vollmundige Ankündigung, durch die Agenda 2010 ließe sich die Arbeitslosigkeit innerhalb kurzer Zeit halbieren, ist nicht Realität geworden. Bei dieser wie bei jeder Reform gibt es Gewinner und Verlierer. Zu den Verlierern gehören Single-Haushalte und ältere Langzeitarbeitslose, die vorher viel verdient hatten. Sie haben durch die Agenda 2010 eindeutig Einbußen.

Und wer sind die Gewinner?

Durch Hartz IV wurden Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammengelegt. Dies war ein richtiger sozialpolitischer Schritt, denn dadurch erhält jeder erwerbsfähige Mensch Anspruch auf Unterstützung bei der Arbeitssuche und bekommt eine finanzielle Grundsicherung. Nicht vergessen sollte man auch, dass die sehr hohe verdeckte Armut in der alten Sozialhilfe jetzt sichtbar wurde. Viele, die vorher unter dem Existenzminimum lebten, haben im neuen System Hilfe beantragt. Damit wurde ein Teil der verdeckten Armut bekämpft. Im Ansatz positiv ist auch das ergänzende Arbeitslosengeld II, mit dem die Einkommen von Niedriglohnbeziehern aufgestockt werden.

Und wo hapert es?

Die Umsetzung der Reform ist aus unserer Sicht unbefriedigend. Die Liste der Mängel ist lang. Es fehlen immer noch hinreichend qualifizierte Fallmanager, die auf die Nöte der Menschen adäquat eingehen können. Arbeitslosengeld-II-Bezieher sind bis heute mit unverständlichen Bescheiden konfrontiert. Die im Gesetz vorgesehenen Sanktionen für Hilfeempfänger sind überzogen. Einzelfallhilfen in Härtefällen sind kaum noch möglich – ein zentraler Konstruktionsfehler der Grundsicherung, der dringend korrigiert werden muss. Ein Beispiel: Wenn ein Kind an Krebs erkrankt, sind die Zusatzkosten für spezielle Ernährung oder für Arztfahrten durch die Regelsätze nicht abgedeckt. Alle Lebenssituationen werden über einen Kamm geschert. Und viele Empfänger der staatlichen Grundsicherung kommen mit dem ihnen zustehenden Betrag von 347 Euro im Monat einfach nicht aus.

Wie viel Geld braucht man denn, um in Deutschland menschenwürdig zu leben?

Grob geschätzt fehlen den Menschen heute im Vergleich zu 2003 etwa 25 Euro. Das Problem ist, dass das Arbeitslosengeld II seit Jahren praktisch unverändert ist. Seine Basis hat es in der Verbraucherstichprobe von 2003. Nicht berücksichtigt sind seither eingeführte zusätzliche Lasten wie die Zuzahlungen im Gesundheitswesen, die Erhöhung der Mehrwertsteuer und natürlich die Inflationsrate. Eine entsprechend angemessene Berechnung ist Aufgabe der Bundesregierung. Wir brauchen einen Mechanismus, der diese Steigerungen berücksichtigt.

Entwickelt sich eine neue Unterklasse?

Was seit einiger Zeit wieder in der öffentlichen Debatte „Unterschicht“ genannt wird, ist kein neues Phänomen. Allerdings belegen neueste Untersuchungen, dass die Mittelschicht abnimmt und die Zahl der Haushalte im Niedriglohnbereich steigt. Wir haben einen engen Zusammenhang von mangelnder Bildung, Armut und Arbeitslosigkeit – enger als in anderen europäischen Ländern. Die erfreuliche Belebung am Arbeitsmarkt erreicht diese Menschen nur sehr ungenügend. Ein großer Teil derer, die in den alten Bundesländern noch arbeitslos sind, hat entweder eine abgebrochene Schullaufbahn oder keine Berufsausbildung. Für diesen Personenkreis mit geringen Qualifikationen ist es besonders schwer, im Arbeitsmarkt unterzukommen.

Prekäre und zeitlich befristete Arbeitsverhältnisse nehmen zu. Was bedeutet das für unsere Gesellschaft?

Viele Menschen üben Minijobs aus oder sind darauf angewiesen, nicht existenzsichernde Erwerbsarbeit mit Sozialtransfers aufzustocken. Diese Minijobs auszuweiten, war eine klare Entscheidung der Agenda 2010. Derzeit sind über sieben Millionen Menschen im Hartz-IV-System. Jeder Zehnte kann also nicht aus eigener Kraft seinen Lebensunterhalt verdienen. Oft hängt damit ein Verlust des Selbstwertgefühls und ein Gefühl der Ohnmacht zusammen. Letztlich aber steht hinter befristeten Arbeitsverhältnissen und der Beschäftigung über Zeitarbeitsfirmen die Hoffnung, dass sich die betroffenen Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt wieder hocharbeiten können, wenn sie erst mal wieder einen Fuß in der Türe haben. Diese Entwicklungen müssen wir jedoch sorgsam im Auge behalten.

Oder wird auch zu viel gejammert?

Es ist mir zu simpel, wenn immer gesagt wird, es wird zu viel gejammert und wir jammern auf hohem Niveau. In den letzten Jahren hat sich in unserem gesellschaftlichen Leben etwas Entscheidendes verändert. Menschen können nämlich bei Verlust ihres Arbeitsplatzes relativ schnell sozial absacken, wenn sie keine adäquate Arbeit mehr finden. Das erzeugt eine tiefe Verunsicherung. Die Leute erleben, dass unbefristete Arbeitsverhältnisse nicht mehr unbedingt die Normalität sind. Sie sehen sich nach vielen Jahren Berufstätigkeit mit Firmenschließungen konfrontiert und versuchen oft vergeblich, nach der Entlassung wieder in den Arbeitsmarkt zu kommen. Das kann man nicht einfach als Gejammer abtun.

Zum ersten Mal hat es im letzten Jahr einen Aufschwung gegeben, bei dem die Löhne in der Tendenz gesunken sind. Es profitieren vor allem die Unternehmen und Vermögenden. Was bedeutet das?

Ein wirtschaftlicher Aufschwung muss bei den Menschen ankommen, die mit ihrer Arbeitskraft die Wirtschaft voranbringen. Die ganze Diskussion um Managergehälter ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. Eine kleine Gruppe hat unverhältnismäßig hohe Gehälter – und parallel dazu sieht sich ein Großteil der Arbeitnehmer nicht angemessen am Aufschwung beteiligt. Das erzeugt zu Recht ein Gefühl von mangelnder Gerechtigkeit.

Wie viel Armut gibt es heute bei uns?

Die Zahl armer Familien und damit auch armer Kinder in Deutschland hat zugenommen. Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung von 2005 spricht von 1,5 Millionen Kindern in Grundsicherung, heute wird von 1,9 Millionen Kindern unter 15 Jahren auf Grundsicherungsniveau ausgegangen. Der Anstieg beruht teilweise aber auch darauf, dass die vorher verdeckte Armut miterfasst ist.

Was halten Sie von dem Argument, nicht die materielle Armut, sondern die Verhaltensarmut sei inzwischen das Hauptproblem?

Armut ist nicht nur materielle Armut. Ich möchte sie Teilhabearmut nennen: die fehlenden Möglichkeiten, an gesellschaftlichen Ereignissen und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen; die fehlenden Kompetenzen, sein Leben selbst bestimmt zu gestalten. Wir fordern auch mehr Bildungsgerechtigkeit. Keine Arbeitsmarktpolitik kann die deutlichen Qualifikationsdefizite ausgleichen, die insbesondere Jugendliche aus bildungsfernen Familien und mit Migrationshintergrund zeigen. Wir haben in Deutschland nur eine Chance, die Langzeitarbeitslosigkeit dauerhaft zu bekämpfen, wenn wir mehr in die Bildung der nachwachsenden Generationen investieren. Dabei geht es nicht nur um die Verwertbarkeit der Menschen auf dem Arbeitsmarkt, sondern um Teilhabechancen und um ein gelingendes Leben.

Gibt es selbst verschuldete Armut?

Die Frage der Schuld lässt sich immer nur individuell beantworten. Es gibt keine kollektive Schuld armer Menschen. Armut entsteht zunächst aufgrund mangelnder Chancen. Wenn ein Ingenieur heute bei einer Massenentlassung seinen Arbeitsplatz verliert, und solche Fälle lesen wir ja täglich in der Zeitung, kann man ihm dann eine Schuld geben? Wohl nicht. Die Gesellschaft hat die Verantwortung, Teilhabe am Arbeitsleben, aber auch an der Gesellschaft für alle zu ermöglichen. Auch für diejenigen, die keine Arbeit mehr finden. Bei Kindern aus armen Familien oder Familien mit Migrationshintergrund, die in der Schule scheitern, wäre eine Schuldzuweisung absurd. Natürlich ist Selbstverantwortung gefragt, etwa die Bereitschaft, sich weiterzubilden und die eigene Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten. Aber diesen Appell kann man nur an die richten, die hierzu auch eine Chance bekommen.

Wo endet die Verantwortung einer Gesellschaft für ihre Armen?

Arme Menschen sind Teil der Gesellschaft. Die Verantwortung dafür, dass Bürgerinnen und Bürger unabhängig von ihrer finanziellen Situation das Recht auf Teilhabe und Unterstützung haben, ist ein Grundrecht und darf nicht infrage gestellt werden.

Immer mehr Politiker fordern, Eltern härter an die Kandare zu nehmen. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers will „überforderte Eltern“ zu staatlichen Erziehungskursen verpflichten. „Wenn Kinder verwahrlosen, dann muss der Staat eingreifen“, sagt Rüttgers. Die CSU will Familienleistungen wie das Betreuungsgeld von der Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen für Kleinkinder abhängig machen. Berlins SPD-Fraktionschef Michael Müller sprach sich für die Einführung von Bußgeld für Erziehungsberechtigte aus, die ihren Elternpflichten nicht nachkommen. Was halten Sie davon?

Wir wissen, dass ein gewisser Teil der Eltern mit der Erziehung und Versorgung ihrer Kinder überfordert ist. Hier reicht allein eine Erhöhung der materiellen Zuwendungen nicht aus. Es ist zwingend erforderlich, niedrigschwellige Angebote zu machen und sehr früh in Kontakt mit den Familien zu kommen. Dabei setzen wir auf Freiwilligkeit und gezielten Einsatz von Hilfen. Wir halten nichts von Zwangsuntersuchungen. Aber wir halten sehr viel von einer Kultur der Mitsorge.

Was konkret tut die Caritas?

Wir bieten bereits jetzt „Frühe Hilfen“ an. Sozialarbeiterinnen und Hebammen vernetzen sich und unterstützen Eltern während der Schwangerschaft. Elternkurse, offene Elterntrainings und das Haushaltsorganisationstraining der Caritas können hier genannt werden. Es gibt einfach Familien, die beispielsweise wieder lernen müssen, sich nicht nur von Fast Food zu ernähren, sondern selbst zu kochen.

Beim Streit um die Kinderbetreuung hat der Augsburger Bischof Walter Mixa gesagt, die Politik wolle Frauen zu Gebärmaschinen machen.

Polemische Äußerungen gleich welcher Art sind diesem Thema nicht dienlich. Man darf nicht Kindergeld und Kinderbetreuung gegeneinander ausspielen. Entscheidend ist die Wahlfreiheit der Eltern. Die Eltern müssen die Möglichkeit haben, das Bestmögliche für ihr Kind zu wählen. Und wir müssen frühzeitig in Richtung Bildung investieren, das gilt auch für die Betreuung der Kinder unter drei Jahren. Damit das Bildungspotenzial auch für Kinder in prekären Lebensverhältnissen und benachteiligten Familien geweckt wird. Das ist die beste Vorsorge gegen Armut später im Erwachsenenalter.

Kinder sind ein Armutsrisiko – stärker denn je. Was muss geschehen, um diesen Zustand zu beenden?

Wir brauchen eine Kindergrundsicherung, die es ermöglicht, dass Kinder unabhängig von der Arbeitsmarktsituation ihrer Eltern finanziell abgesichert sind. Ein erster Schritt ist der Ausbau des Kinderzuschlages. Er müsste von aktuell 140 Euro auf mindestens 150 Euro erhöht werden. Der Regelsatz in der Sozialhilfe für Kinder ist bislang ein fester Prozentsatz des Erwachsenenregelsatzes. Das Geld deckt jedoch den Bedarf von Kindern nicht ab, insbesondere in der Schule, bei der Ernährung und bei der Gesundheit. Wir halten darum einen eigenständigen Kinderregelsatz für erforderlich und lassen diesen gerade errechnen. Man könnte aber auch Kindern aus armen Familien Gutscheine zur Teilnahme am Musikunterricht, zur Mitgliedschaft in Sportvereinen oder für Nachhilfe geben. Es ist Aufgabe der Familien- und Steuerpolitik, solche Rahmenbedingungen zu schaffen, dass Kinder kein „Armutsrisiko“ mehr darstellen. Familien mit Kindern müssen stärker finanziell entlastet werden. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Das ist ein dickes, teures Bündel von Vorschlägen, die Sie machen. Finden Sie als Caritas-Chef bei der Politik ausreichend Gehör – oder reden Sie da eher gegen Wände?

Es ist ja noch nicht so lange her, dass Familienpolitik als Gedöns abgetan wurde. In den letzten zwei Jahren habe ich den Eindruck, dass wir hier eine Veränderung zum Positiven haben. Es gibt eine Einsicht in den Zusammenhang zwischen mangelnder Bildung, mangelnden Möglichkeiten zur Beschäftigung und Armut. Ich wünsche mir natürlich, dass die Politik noch deutlichere Akzente setzt – aber es geht in die richtige Richtung. Wir bohren beim Thema Armut und Familien ein dickes Brett – sind aber in den letzten Jahren ein Stück vorangekommen.

Das Gespräch führten Rainer Woratschka und Martin Gehlen.

FIRMENCHEF

Peter Neher (52) ist seit 2003 Präsident des Deutschen Caritasverbandes. Damit steht der gebürtige Allgäuer an der Spitze des mit 490.000 Mitarbeitern größten privaten deutschen Arbeitgebers.

FACHMANN

Der gelernte Bankkaufmann und Theologe empfing 1983 in Augsburg die Priesterweihe. Danach war er als Kaplan, Klinikseelsorger, Pfarrer und im Priesterseminar tätig. Er promovierte über Sterbebegleitung.

BERATER

Seit 2007 ist Neher Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege. Er berät die Deutsche Bischofskonferenz und ist Mitglied des Päpstlichen Rates „Cor Unum“. raw

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