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Längst wird die römische Stadtreinigung der Berge von Unrat nicht mehr Herr.

© picture-alliance/ dpa

Chaos in Rom: Die versunkene Stadt

Der Müll stinkt zum Himmel, die Schulden explodieren, die Preise auch, Korruption und Kriminalität ebenfalls. Und ein Bürgermeister sieht tatenlos zu. Roma Aeterna, die Ewige Stadt, trägt alle Zeichen der Vergänglichkeit.

Noch nie war Stefano morgens in der Bar. Er ist ein Familienmensch; mit seiner Chiara und den drei halbwüchsigen Kindern frühstückt er lieber daheim. Aber heute? „Hey, du hier?” „Ich hab kein Zuhause mehr.“ „Wie das?“ „Ich zieh fort. Habt ihr nicht den Möbelwagen vor meinem Wohnblock gesehen?“

Was ist geschehen? Nie im Leben hätte man sich vorstellen können, dass einer wie Stefano aus Rom weggehen könnte: hier geboren vor 50 Jahren, hier aufgewachsen, hier zum Kunst- und Stadtführer geworden, der jeden neuen und alten Stein am Weg kennt, vernetzt und geschätzt in allen Kreisen.

„Und du ziehst weg?“ Da richtet sich Stefano vom Barhocker zu seinen vollen zwei Metern Körpergröße auf, stellt die halbleere Cappuccino-Tasse zur Seite und ruft durchs ganze Lokal: „Ich halt das hier nicht mehr aus. Dieser Dreck auf den Straßen. Immer dieser Gestank in der Nase. Dieses Verkehrschaos jeden Tag. Diese verrückte Bürokratie überall. Und der Egoismus der Römer. Diese Egomanie. Ich, ich, immer nur ich. Alles andere ist ihnen egal. Diese Stadt geht vor die Hunde!“ Der Ausbruch geht noch weiter. In der Bar wird es still.

Wo ziehst du hin? Nach Deutschland

„Und wo ziehst du hin?“ „Nach Deutschland. Da funktionieren die Sachen. Da kostet alles nur halb so viel. Im Allgäu haben wir uns ein Haus gekauft, da können die Kinder wenigstens auf die Straße. Aber hier ...” Chiara fasst Stefano am Arm: „Hör mal, wir müssen da noch ein paar Sachen erledigen.” Man grüßt, man wünscht sich alles Gute. Und weg sind sie.

Draußen auf der Straße vor der Bar steht eine Frau, jeden Tag ist sie hier. Wie immer in diesen klobigen Arbeitsschuhen, die so gar nicht zu ihrer zarten Gestalt passen. Wie immer mit ihrem Putzeimer, ein paar Schwämmchen, einem Plastikschäufelchen, einem Besen. Sie lächelt immer so irritierend verzückt, singt ein bisschen vor sich hin – und kehrt die Straße. Den Dreck, den die Römer einfach fallen lassen, sammelt sie ein, die in der Sommerschwüle dünstenden Hundehaufen räumt sie weg, fein säuberlich löst sie zerfetzte Werbezettel von Wänden und Laternenmasten.

Wie sie heißt, weiß niemand. Ihrem strohblonden Typ nach könnte sie Holländerin sein oder Deutsche oder Engländerin, aber spricht man sie auf Englisch an, sagt sie „german“; versucht man’s dann auf Deutsch, erntet man nur einen fragenden Blick, irgendwann sagt sie in einer Art Fantasie-Italienisch: „Warum ich tun das? Weil ich lieben diese Stadt.”

Bei der Müllabfuhr nimmt keiner ab

Dann wendet sich die Frau schnell ab und scheucht eine von diesen Möwen weg, die in immer größeren Scharen über die römischen Biomüll-Container herfallen. Hier ist Nahrung bequemer zu bekommen als beim Fischejagen im Meer. In großen Haufen liegen hier Plastiksäcke, obenauf und drumherum, weil die Container tagelang nicht geleert werden und die Römer ihre Tüten lieber daneben abwerfen, womöglich vom vorbeifahrenden Motorrad aus. Da braucht es nur einen Hieb mit dem Möwenschnabel, und schon liegt alles weit und breit verstreut: Orangenschalen und Spinatreste und altes Brot und Fischskelette. Sogar vor der Schule in der Nachbarschaft türmen sich die Haufen. „Wie ekelhaft!”, sagen die einen, und die anderen: „Und solche Leute wollen unsere Kinder erziehen?“

Was tun? Man könnte zum Beispiel die Notfallnummer der städtischen Müllabfuhr wählen. Aber da nimmt keiner ab. Vielleicht deshalb, weil auch die Müllabfuhr nicht immer weiß, wo sie den Dreck hinbringen soll. Seit Oktober ist Malagrotta, Roms und Europas größte Deponie, geschlossen. Überfüllt war sie seit Jahren. Aber nichts ist geschehen. Im Gegenteil, der private Betreiber, der Abfallmonopolist Manlio Cerroni, hatte die städtischen und regionalen Politiker so in seine Netze eingesponnen, dass sie ihm eine lukrative Verlängerung nach der anderen zugestanden. Und bei der Suche nach einer Nachfolgedeponie stieß jeder Vorschlag auf offenbar unüberwindliche Proteste der jeweils anwohnenden Bürger.

660 Kilo Müll produziert jeder Römer pro Jahr

Cerroni, „il Supremo“, wie er sich nennen lässt, „der Höchste“, findet mit seinen 87 Jahren, dass ihm die Stadt eigentlich „ein Denkmal setzen“ müsste, weil er ihr über 40 Jahre hinweg ein sorgloses Dasein geschenkt hat. Dass er heute stattdessen wegen diverser illegaler Aktivitäten, die zuvor keiner hat sehen wollen, vor Gericht steht, hält Cerroni natürlich für ungerecht. Andererseits blickt er hämisch auf die Stadt-Gewaltigen von heute: „Seht, ohne mich schafft ihr’s doch nicht.“

660 Kilo Müll produziert jeder Römer pro Jahr. Selbst im verrufenen Neapel, dessen Müllprobleme in der Vergangenheit immer wieder Schlagzeilen machten, sind es 113 Kilo weniger. Recycelt wird nach ebenso offiziellen wie dubiosen Angaben etwa ein Viertel. Norditalienische Städte sind da viel weiter.

In der Hauptstadt aber scheint das nicht zu funktionieren. Und die Römer, denen die Stadt „zur Aufrechterhaltung kommunaler Dienstleistungen“ jedes Jahr 1040 Euro für die Müllbeseitigung abnimmt, sehen nicht ein, wofür sie diese Summe bezahlen sollen. Im Rest des Landes zahlen die Bürger nur 400 Euro – und die Serviceleistungen Roms gehören zu den schlechtesten.

Wenn es nur die Müllprobleme wären!

Wenn es nur die Müllprobleme wären! Da sind ja auch die miserablen Straßen: übersät von Schlaglöchern, die sich – in der Stadt mit den ohnehin meisten Verkehrstoten Italiens – Jahr für Jahr katastrophal auswirken für Moped- oder Motorradfahrer und die nach jedem Winter, wenn überhaupt, nur mit einer hauchdünnen Asphaltschicht überzogen werden. „Aus Geldmangel“, wie die Stadt sagt. „Um den Baufirmen gleich die nächsten Restaurierungen zu sichern“, wie Stefano in der Bar schimpft.

Da sind die permanent verstopften Gullys, die jeden mittleren Regenguss zur Sintflut und zum Fall für den Katastrophenschutz werden lassen. Da ist die unzureichende, störanfällige U-Bahn: Zwei Linien nur sollen eine Stadt mit drei Millionen Einwohnern oder – inklusive Pendler aus dem Umland – fünf Millionen Menschen versorgen. Lang ist dieses U-Bahn-Netz exakt 37,4 Kilometer. Berlin hat viermal, Madrid sieben- und London gar elfmal so viel. Die „Metro C“, die dritte Linie, wird derzeit gebaut. Im Stop-and-go-Verfahren allerdings, denn zwischendurch geht immer wieder das Geld aus. Niemand weiß, wann die Röhre fertig wird.

Die städtischen Schulden: 14,9 Milliarden Euro

Im Januar hat ein Erdrutsch etliche Hauptverkehrsstraßen lahmgelegt; erst heute, nach mehr als einem halben Jahr, sind sie saniert. Im Februar dann ist Rom nur um Haaresbreite am Bankrott vorbeigeschrammt; erst jetzt, ein halbes Jahr später, hat der Gemeinderat einen Sanierungshaushalt beschlossen. Aber noch ist unklar, ob darin auch jenes Einsparkonzept von 440 Millionen Euro verwirklicht ist, das Regierungschef Matteo Renzi als Gegenleistung für jene 570 Millionen Euro verlangt hat, mit denen der Staat im Frühjahr die Kommune sehr widerstrebend gerettet hat.

Dafür gönnt sich Rom mit seinen städtischen Schulden von 14,9 Milliarden Euro mehr als doppelt so viel Personal wie Fiat in seinen italienischen Werken. Allein bei den Verkehrsbetrieben und der Müllabfuhr sind an die 32 000 Menschen beschäftigt; in der Stadtverwaltung kommen noch mal 25 000 Personen hinzu. Unter dem rechtskonservativen Bürgermeister Gianni Alemanno, der von 2008 bis 2013 regiert und ein riesiges Finanzloch hinterlassen hat, sind allein beim öffentlichen Nahverkehr 2000 Leute neu eingestellt worden: alles ohne Ausschreibung, lauter Verwandte, Freunde von Freunden, politische Gesinnungsgenossen – die bei unklaren Aufgaben zum Teil mehr verdienen als ihre Chefs. Zum Defizit tragen mit 22 Millionen Euro sogar die städtischen Apotheken mit ihren 360 Beschäftigten bei. „Das ist ein Fall für die Wissenschaft“, sagt der heutige Bürgermeister Ignazio Marino: „Apotheken, die Verluste schreiben, gibt’s sonst nirgendwo in Europa.“

Sobald das Gespräch auf den Bürgermeister kommt, fragen alle: „Was macht der eigentlich?“

Marino ist auch so ein Fall. Den neuen Stil im Rathaus will der 59-Jährige auch dadurch sichtbar machen, dass er zu Terminen gerne per Fahrrad anreist – und sich danach, wenn die Fotografen weg sind, im Dienstwagen wieder abholen lässt. Marino ist Transplantationschirurg mit viel Erfahrung in den USA, er ist in Genua als Sohn einer Schweizerin und eines Sizilianers geboren. Über Rom, hat er einmal gesagt, ist er gekommen wie ein Marsmensch. In den Sozialdemokraten Marino haben die Römer vor einem Jahr ähnliche Wendehoffnungen gesetzt wie die Italiener in Matteo Renzi bei den Europawahlen diesen Mai. Doch die eigene Partei mag den Bürgermeister nicht.

Anfangs, so heißt es, habe sich Marino in seinem Büro – jenem Arbeitsplatz auf dem Kapitol mit dem unbezahlbaren Ausblick aufs antike Forum Romanum – regelrecht eingeschlossen, um die Begehrlichkeiten der einzelnen Seilschaften abzuwehren. Trotzdem – oder umso mehr – ist der Bürgermeister zum Objekt der ortsüblichen Parteiintrigen geworden. „Die römischen Linken“, sagt Regierungs- und Parteichef Matteo Renzi, „sind die Schlimmsten von allen.“ Wer da wen behindert, wer am fortdauernden Stillstand in Rom schuld ist – Marino mit seiner Stadtregierung oder der unter einer antiken Statue des Gaius Julius Caesar in entsprechendem Machtbewusstsein tagende Gemeinderat –, ist beständig Gegenstand wilder Streitigkeiten. Jedenfalls: Sobald in irgendeiner Bar das Gespräch auf den Bürgermeister kommt, fragen alle: „Was macht der eigentlich?“

Die Korruption auszurotten gelang ihm nicht

So bleibt alles, wie es war. Die illegalen Straßenhändler, die Brücken und Plätze mit ihren gefälschten Markenwaren besetzen, sind nicht weniger geworden. Für die unausrottbaren fahrbaren Kioske, die Getränke und Knabbereien zu horrenden Preisen verkaufen, wollte Marino wenigstens die Standgebühr von täglich drei auf dreißig Euro erhöhen. „Eine Verzehnfachung!“, tobten die Händler, und ihre Lobby im Gemeinderat torpedierte die Pläne. Jetzt zahlen sie zehn Euro pro Tag; das ist der Verkaufserlös von zwei bis drei Brötchen nebst Mineralwasser.

Es ist Ignazio Marino auch in keiner Weise gelungen, die Korruption in der Stadtverwaltung selbst auszurotten. Alle paar Wochen drängen neue Skandale ans Tageslicht, immer wieder sind selbst Mitglieder der Stadtpolizei verstrickt – etwa wenn es um das Verschwindenlassen von Strafzetteln für Prominente oder Reiche geht oder um Einfahrgenehmigungen ins Stadtzentrum; sogar den Polizeichef haben sie dafür in Hausarrest genommen.

Auch die allgemeine Kriminalität breitet sich in Rom wieder aus: Bandenführer schießen Konkurrenten auf offener Straße nieder; Bars und Restaurants im Stadtzentrum werden als Zentren mafioser Geldwäsche beschlagnahmt; der Hauptbahnhof Termini und seine Fahrkartenautomaten sind in der Hand professionell organisierter Roma-Gruppen, die bei Touristen und Einheimischen rabiat das Restgeld einfordern und noch einiges mehr abgreifen.

"Inferno für Touristen"

Das schöne Rom, wettert der Hotelierverband in einem Offenen Brief an Marino, sei zum „wahren Inferno für Touristen“ verkommen – doch gleichzeitig hält die Steuerpolizei unwidersprochen fest, dass 90 Prozent der römischen Hoteliers die Aufenthaltssteuer bei ihren Gästen zwar vorschriftsgemäß einheben, sie dann aber für sich behalten: 20 bis 25 Millionen Euro jährlich, die der Stadtkasse fehlen.

Dennoch ist nicht alles Stillstand: Derzeit verschwinden vom Kolosseum die ersten Baugerüste. Das von den Touristen meistbesuchte, schmutzig-schwarze Denkmal enthüllt sich bereits nach einjähriger Teilrestaurierung in seinen warmen Farben von einst: in Ocker, Bernstein, Honig. Bezahlt hat die Arbeiten ein anderer Nichtrömer: Der Luxusfabrikant Diego Della Valle von „Tod’s“ oder „Hogan“ oder „Fay“. Bis er allerdings seine 25 Millionen Euro ausgeben durfte, hat ihm das missgünstige Rom Steine in den Weg gelegt, wo es nur ging. Warum Diego Della Valle trotzdem gespendet hat? Dass er diese Stadt liebe, hat er nie gesagt. Aber von „nationalem Stolz“ hat er gesprochen, von Verantwortung für ein Kulturerbe, das nicht einer verfallenden Stadt, sondern der ganzen Welt gehöre. Sätze sind das, wie sie in Rom tatsächlich nur von schrägen Typen oder von Marsmenschen gesprochen werden können.

Dieser Text erschien auf der Reportageseite.

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