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Politik: Chiles Oberschicht arrangiert sich mit der Linksregierung - und hofiert doch Pinochet

Diesmal wird es anders. Davon ist Gonzalo Lyon* überzeugt.

Diesmal wird es anders. Davon ist Gonzalo Lyon* überzeugt. Diesmal wird kein uniformierter Fremder in seinem Wohnzimmer stehen und sagen: "Sie können gehen. Künftig werden andere Menschen in Ihrem Hause wohnen." Damals ist Gonzalo gegangen, als der Sozialist Salvador Allende in Chile die Macht übernahm, als die Regierung Tausende von Häusern und Fabriken beschlagnahmte. Das ist nun fast 30 Jahre her. Aber wenn Gonzalo davon spricht, umklammert seine rechte Hand die Stuhllehne aus Mahagoni so fest, dass die Knöchel weiß werden. Der Schrecken sitzt tief.

Jetzt ist mit Ricardo Lagos wieder ein Sozialist an der Macht, und dieses neue Haus von Gonzalo würde sicher auch anderen gefallen: ein gemütliches, zweistöckiges Domizil mitten in einem Viertel der Privilegierten von Santiago de Chile. Providencia ist ein Stadtteil, in dem zu jeder Jahreszeit sattgrüner Rasen die Trottoirs säumt, gehegt und gepflegt von vielen Gärtnern.

Allende war nur drei Jahre an der Macht, und darum haben einige Schätze von Gonzalos Familie die Zeit im Keller von Freunden überdauert. Die Familienporträts im Eingangszimmer zum Beispiel, auf denen Gonzalos Mutter und Großmutter zu sehen sind, zwei bleiche Damen mit Perlen um den schlanken Hals. Gemälde in Öl von englischen Landschaften hängen auch im Wohnzimmer dieses Häuschens, in dem Gonzalo, seine Frau Esperanza ein Glas Wein trinken. Vor dem Regime Allendes floh die Familie Lyon nach Madrid, von wo aus Gonzalo über befreundete Teilhaber versuchte, die Fabrik in der Heimat aus den Händen der Sozialisten zu befreien. Drei Jahre später stürzte Augusto Pinochet die Regierung. "Das war mein schönster Tag in Spanien ", sagt Gonzalo schlicht.

Für einen Moment herrscht Schweigen. Wenn nicht eine Uhr ticken würde, könnte man meinen, die Zeit sei stehengeblieben zwischen diesen Landschaften und Möbeln aus vergangenen Jahrhunderten. Dann geht es hinüber ins Esszimmer, wo ein weiß gedeckter Tisch mit silbernen Karaffen wartet. "Lagos ist ein intelligenter Mann mit Weitblick", sagt Gonzalo. "Er wird den wirtschaftlichen Aufschwung in unserem Lande nicht bremsen, und er wird niemanden enteignen." Esperanza gibt mit feiner Stimme zu bedenken, "dass dieser Mann die Macht liebt. Denken Sie, Gonzalo" - sie siezt ihren Mann -, "wie er die Menge neulich hochgejubelt hat. Aber vielleicht ist so ein Populismus heute wichtig." Sie wiegt nachdenklich den Kopf. "On verra", sagt die Chilenin dann auf Französisch und lächelt. Man wird sehen. Dann drückt sie auf eine elektrische Klingel zu ihrer Rechten, eine junge Frau mit den schmalen, braunen Augen der Mapuche-Indianer erscheint in blau-weißer Schürze und serviert Suppe.

"On verra", sagt auch Beatriz Cortejo*, als sie in ihrem Appartment, das keine drei Autominuten vom Haus der Lyons entfernt liegt, einen Fernsehbericht über die Ansprache des neuen Präsidenten vor einer jubelnden Menschenmenge ansieht. Mehr Wahrheit und Gerechtigkeit im Falle Pinochet verspricht Lagos seinem Volk, während Beatriz mit ihren brennenden dunklen Augen den Fernseher zu durchbohren scheint. Sie lächelt nicht. Auch Beatriz gehört zu jenen privilegierten Chilenen, die ihr Leben zwischen grün gesäumten Trottoirs verbringen konnten. Aber Worte wiegen für die 61-Jährige schwer, vielleicht weil die Sprache ihr Metier ist: 30 Jahre lang hat sie an einer Eliteschule des Landes Philosophie gelehrt. Eine Weile musste sie dabei um ihr Leben fürchten, sie hatte Pinochet vor ihren Schülerinnen kritisiert. Mehrfach wurde sie gewarnt, dann sprach sie im Kreise dieser Töchter von Generälen, Unternehmern und Ministern nur noch über Sokrates, Decartes oder Kant.

Esperanza drückt wieder auf die Klingel. Was war das für eine Demokratie, in der Andersdenkende ihr Leben riskierten? "Ja ... ", sagt Gonzalo und blickt nachdenklich auf die englische Landschaft in Öl. Vielleicht sind es die vielen Falten in seinem Gesicht, die es so schwer machen, seinen Ausdruck zu lesen. "Das waren große Dummheiten", sagt er dann. "Das hätte nicht passieren dürfen." Dann fügt er schnell und eindringlich hinzu: "Aber die Europäer vergessen immer Eines: "Ein General ist kein Politiker." Gonzalo jedenfalls kennt beide zur Genüge. Esperanzas Vater hat gegen Allende um das Präsidentenamt kandidiert, und wie es in einer alten chilenischen Familie oft üblich ist, dienen auch ein paar Verwandte beim Militär. "Unseren Weg in die Demokratie kann man nur verstehen, wenn man weiß, woher wir gekommen sind", sagt Gonzalo. Pinochet habe sie vor einem Sozialismus bewahrt, der ähnlich wie der in Kuba geworden wäre. "Erklären Sie mir mal eines: Warum schimpft eigentlich alle Welt über uns Chilenen und über Pinochet, aber Fidel Castro braucht nicht zu fürchten, dass er in einem Krankenhaus festgenommen wird?" Tatsächlich hat Pinochet ganz anders als Castro den Unternehmern ihre Freiheit wiedergegeben und seinem Land den Weg zu wirtschaftlichem Aufschwung geebnet.

"Eine Dummheit soll das gewesen sein?", ruft am nächsten Tage Beatriz aus. "Diese Verschleppungen, Morde und Folterungen nennt er einfach nur Dummheiten!" Wie zum Sprung bereit, steht Beatriz vor ihrem Gasherd, dabei reißt sie ihre Augen weit auf, so wie sie es immer tut, wenn sie beim Thema Pinochet landet. Für Beatriz ist die chilenische Demokratie eine Farce, und der Mann, der die Hauptschuld daran trägt, ist Pinochet. "Er ist ein Verbrecher. Punkt", sagt sie wieder einmal. Dennoch ist Beatriz etwas ruhiger als sonst. Die Amerikaner hätten jetzt Beweise, dass Pinochet persönlich einige Mordbefehle erteilte, erzählt sie mit grimmiger Freude. Darum schöpft sie Hoffnung, dass es doch Klarheit über die dunkle Zeit geben wird.

Chiles Oberschicht hat zwei Vergangenheiten: Es gibt die einen, die nur die schöne neue Welt sehen, die der wirtschaftliche Aufschwung dem Lande gebracht hat mit immer mehr grünen Trottoirs und immer mehr glitzernde Hochhäusern. Und es gibt andere, die sich an das Leid und die Unterdrückung erinnern. Manchmal wohnen sie ganz nah nebeneinander. Doch wie das Land seinen Ex-Diktator in Erinnerung behält, entscheiden nicht nur Gonzalo Lyon und Beatriz Cortejo: 80 Verfahren laufen in Chile gegen Pinochet wegen Menschenrechtsverbrechen. Demnächst verhandelt das Berufungsgericht in Santiago, ob die Immunität des Ex-Generals aufgehoben wird. Das Verfahren soll in zwei Wochen beginnen.*Namen von der Redaktion geändert.

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