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Christian Lindner, Chef des größten FDP-Landesverbands Nordrhein-Westfalen.

© Thilo Rückeis

Christian Lindner im Interview: "Ein Austritt Griechenlands wäre keine Trivialität"

Nordrhein-Westfalens FDP-Chef Christian Lindner über die Euro-Szenarien seines Parteivorsitzenden, die Belastung der Bürger durch die Energiewende – und die Widersprüche der CSU.

„Europa ist für unsere Zukunft zu wichtig, als dass man es der Wahlkampf-Folklore überlassen könnte“. Von wem, Herr Lindner, stammt dieser Satz?

Unabhängig von seinem Ursprung unterschreibe ich ihn.

Er stammt von Ihnen, Sie haben damit die CSU gemahnt. Nun redet Ihr Parteichef Philipp Rösler den Austritt der Griechen aus dem Euroraum herbei. Ist die FDP europapolitisch bei der CSU angekommen?

Ich war vergangene Woche in China. Wer aus dieser Distanz auf Europa und den Euro schaut, der erkennt, dass Integrationspolitik und Währungsunion im deutschen Interesse sind. Politisch und ökonomisch. Klar ist, dass die Währungsunion neue Regeln benötigt. Man könnte sagen: Der Euro muss vor reformunwilligen Politikern und ihren Schulden geschützt werden. Aber das Ziel muss sein, dabei möglichst viele unserer Partner in ein erneuertes Europa mitzunehmen. Alles andere wäre fahrlässig.

Ist es fahrlässig, als Wirtschaftsminister Deutschlands zu sagen, der Austritt Griechenlands habe seinen Schrecken verloren?

Ich bin nicht der Chefinterpret von Philipp Rösler, deshalb zur Sache: Man darf feststellen, dass wir mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus bald über eine Brandmauer verfügen, die Ansteckungsgefahren für andere EU-Staaten reduziert. Die natürlich nicht wünschenswerten Ultima-Ratio-Szenarien sind daher heute andere als im April 2010 bei der ersten Entscheidung zu Griechenland.

Ist Griechenland reformunwillig?

Wir geben unseren deutschen Bundesländern bis 2020 Zeit, auf Schulden zu verzichten. Griechenland muss ungleich größere Aufgaben schneller lösen. Die Anstrengungen, die in Athen unternommen werden, sind daher sicher beachtlicher als die Politik zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen. Ob sie ausreichen, wird die Troika feststellen. Danach wird entschieden. Ich hoffe, dass es gelingt, die Eurozone insgesamt zu stabilisieren. Ich kenne niemanden, der sich trotz aller Vorkehrungen der Illusion hingeben würde, ein Austritt Griechenlands aus der Währungsunion wäre eine finanzielle oder politische Trivialität.

Ist Philipp Rösler denn noch der richtige FDP-Chef und Wirtschaftsminister?

Diese sommerlichen Personaldebatten sind mir zu unernst.

Im Januar wählt Niedersachsen einen neuen Landtag. Wie wichtig ist diese Wahl für die FDP, die in Hannover mitregiert?

Zu Beginn des Jahres einer Bundestagswahl ist die erste Landtagswahl natürlich besonders bedeutsam.

Warum kommt die FDP nicht aus ihrem Umfragetief heraus?

Die Bundes-FDP muss weiter an einer Trendwende arbeiten. Wie zu Zeiten von Lambsdorff, Genscher und Baum muss die FDP sich dafür in Stil und Prioritäten von den anderen Parteien unterscheiden. Viele Bürgerinnen und Bürger suchen ja eigentlich eine liberale Partei, die für den verantwortungsbewussten Gebrauch der Freiheit, für Marktwirtschaft und für Rechtsstaatlichkeit steht.

"Wachstum ist ein Mittel. Sein Zweck: mehr Wohlstand"

Sie haben das Thema „Wachstum“ vergessen, das Rösler so stark akzentuiert …

Wachstum ist ein Mittel. Sein Zweck: mehr Wohlstand, bessere Lebenschancen für mehr Menschen. Eine liberale Partei, die nicht alle Probleme an die Politik delegieren, sondern den Einzelnen für das gemeinsame Problemlösen stärken will, wird jedenfalls dringend gebraucht.

Was ist Ihnen thematisch am wichtigsten?

Schuldenfreiheit der öffentlichen Haushalte und die marktwirtschaftliche Neuausrichtung der Energiepolitik.

Beginnen wir mit der Energiewende. Was muss getan werden?

Ich sage voraus, dass die Menschen im Herbst die noch auf Rot-Grün zurückgehenden Defizite der Energiepolitik an ihrer Stromrechnung ablesen können. Dann wird nämlich die EEG-Umlage …

… die Umlage für das Einspeisen der erneuerbaren Energien in das Stromnetz …

… von derzeit 3,5 Cent auf wahrscheinlich 5 Cent pro Kilowattstunde steigen. Damit erhöht sich die Belastung einer Familie für die erneuerbaren Energien von etwa 150 auf 200 Euro im Jahr. Dieser Trend muss gestoppt werden.

Wie?

Das Erneuerbare-Energien-Gesetz war sehr erfolgreich, um die Einführung neuer Technologien zu sichern. Heute sichert es nur noch übermäßige Renditen. Die Preise an der Strombörse sagen wegen Wind und Sonne heute mehr über das Wetter als über die Energienachfrage aus. Deshalb brauchen wir ein EEG-Auslaufgesetz, das die alternativen Energien von der Planwirtschaft in die Marktwirtschaft führt.

Was soll denn in diesem Gesetz stehen?

Die Erzeuger alternativer Energie kalkulieren im Moment mit festen Vergütungen und profitieren von einer Abnahmegarantie. Stattdessen sollten erstens den Stromhändlern feste Quoten für Erneuerbare vorgeschrieben werden, die Quelle sollte aber dem Effizienzwettbewerb überlassen bleiben. Solarenergie ist ja sicher nicht die effizienteste Form in unseren Breitengraden, obwohl dort das meiste Geld konzentriert wird. Zweitens rechnen sich konventionelle Kraftwerke wegen der Fortschritte der Energiewende zu selten, ihre Reservekapazität wird aber in einem Industrieland dennoch gebraucht, wenn es einmal windstill oder bewölkt ist. Die Vorhaltung dieser Reservekapazitäten sollte zukünftig gefördert werden.

Zum Thema öffentliche Finanzen. Was empfiehlt Christian Lindner den Liberalen?

Konsequenz. Die Lehre aus der Schuldenkrise ist, dass der Staat mit dem Geld der Bürgerinnen und Bürger auskommen muss, um sich aus der Abhängigkeit der Finanzmärkte zu befreien. Die Haushaltsexperten von Union und FDP halten einen Bundeshaushalt ohne Schulden im Jahr 2014 für möglich. Das wäre ein großer Erfolg. Unser Finanzexperte Hermann Otto Solms hat vorgeschlagen, so lange auf neue Staatsaufgaben zu verzichten, wie der Staat noch auf Pump wirtschaftet. Er hat dabei ausdrücklich auch das Betreuungsgeld für Eltern, die ihre Kinder nicht in eine Kita bringen, genannt. Das sehe ich genauso. In Zeiten, in denen wir von anderen massive Einsparungen erwarten, dürfen wir keine Wohltaten verteilen, die nur mit neuen Schulden zu bezahlen sind.

Problemthemen: Betreuungsgeld, Praxisgebühr, Bürokratie und Steuerhinterziehung

Ihr Koalitionspartner CSU besteht auf dem Betreuungsgeld.

In Bayern hat die Koalition aus CSU und FDP mit der Tilgung von Altschulden begonnen, in Berlin verlangt die CSU noch die Ausdehnung des Wohlfahrtsstaats auf Pump. Nach der sommerlichen Denkpause wird Horst Seehofer diesen konzeptionellen Widerspruch hoffentlich mit einer seiner souveränen Entscheidungen auflösen. Seit der Festlegung auf das Betreuungsgeld im Koalitionsvertrag haben sich die ökonomischen Rahmenbedingungen geändert. Die FDP hat deshalb ja auch weitere, an sich wünschenswerte Entlastungen des Mittelstands zurückgestellt.

Was wird denn aus der Praxisgebühr? Die sollte doch auch reformiert werden?

Die Praxisgebühr ist teuer für Patienten, ein bürokratisches Ärgernis für die Praxen und für das gesamte System unwirksam. Das haben inzwischen auch die Erfinder von der SPD eingesehen. Nur die Union verteidigt die Praxisgebühr noch. Es wäre ein gutes Signal, wenn sie ihre Haltung korrigieren würde.

Was ist sonst noch abzuarbeiten?

Im Koalitionsvertrag findet sich etwa ein Prüfauftrag für ein sogenanntes Bürgergeld-Modell. Je nach Bedürftigkeit bekämen die Bürger dann aus einer Hand eine pauschalierte Unterstützung. Vom Bafög bis zu Hartz IV. Damit ließe sich viel Bürokratie einsparen, und der Einzelne müsste nicht mehr von Amt zu Amt laufen.

Meinen Sie wirklich, dass Bürokratie das Hauptproblem ist? Viele Menschen stecken in Niedriglohn-Jobs. Und die FDP blockiert einen gesetzlichen Mindestlohn.

Die Statistik zeigt, dass die Bezieher so kleiner Einkommen vor allem ungelernte Kräfte sind oder es sich um Mini- Jobs handelt, die oft als Nebenverdienst genutzt werden. Aus meiner Sicht können alle sozialen Verwerfungen am Arbeitsmarkt mit bestehenden Gesetzen beantwortet werden. Mit dem Mindestarbeitsbedingungengesetz könnte in problematischen Bereichen auf Antrag immer die Notwendigkeit einer Lohnuntergrenze geprüft werden. Die dafür vorgesehene Kommission wird aber nicht angerufen – auch nicht von Landesarbeitsministern der SPD. Wenn man solche Möglichkeiten nicht nutzt, zeigt das, dass es sich um eine Stellvertreterdiskussion handelt. Man will sich sozialpolitisch profilieren, die Probleme in Wirklichkeit aber nicht lösen.

NRW erwirbt für teures Geld Daten-CDs über deutsche Steuerhinterzieher in der Schweiz. Ist das die richtige Methode?

Der Rechtsstaat befindet sich hier in einem kaum erträglichen Dilemma. Steuerhinterziehung darf er einerseits nicht tolerieren. Zur Aufklärung von Straftaten darf er aber andererseits nicht Straftaten wie Datendiebstahl honorieren. Die Lösung ist ein Steuerabkommen, das die Aufklärung auf rechtsstaatlicher Grundlage ermöglicht.

Das Abkommen ist noch nicht in Kraft. Ist die Methode NRW bis dahin nicht legitim?

Ohne Blockade von Rot-Grün gäbe es doch bald dieses Abkommen.

Das Gespräch führten Antje Sirleschtov und Rainer Woratschka. Die Fotos machte Thilo Rückeis.

Zur Person: Christian Lindner

LANDESFÜRST

Als Christian Lindner (33) im Dezember vorigen Jahres seinen Job als FDP-Generalsekretär hinschmiss, verabschiedete er sich mit einem „Auf Wiedersehen“. Drei Monate später war er wieder in der großen Politik: als Chef des größten FDP-Landesverbands Nordrhein-Westfalen.

VORDENKER

Lindner gilt als Intellektueller seiner Partei. Von ihm stammt die Idee des „mitfühlenden Liberalismus“. Seine selbstsicheren Auftritte haben ihm jedoch nicht nur Freunde gemacht, sein Verhältnis zu Parteichef Philipp Rösler gilt als gespannt. Allerdings muss Rösler in Niedersachsen erst schaffen, was Lindner in NRW gelang: die bereits abgeschriebene FDP auf 8,6 Prozent zu hieven.

JUNGUNTERNEHMER

Schon als Schüler betrieb Lindner eine kleine Werbeagentur. Mit 21 gründete er eine Internetfirma, die allerdings schon ein Jahr später pleiteging. (raw)

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