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An Thanksgiving blieb es ruhig in Ferguson.

© AFP

Cleveland und Ferguson: Tödlicher Dienst nach Vorschrift

Nachdem ein Video vom Tod eines Zwölfjährigen durch Polizeikugeln aufgetaucht ist, kommt es bei Protesten in New York zu sieben Festnahmen. Die Lage in Ferguson beruhigt sich dagegen allmählich.

Das ganze Dilemma konzentriert sich in diesem einen Satz: „Sie haben ihren Job gemacht.“ So verteidigte der stellvertretende Polizeichef von Cleveland im Bundesstaat Ohio seine zwei Kollegen, die am vergangenen Sonnabend ein Kind erschossen. Klammert man sich an die Paragraphen der US-Justiz, scheint der Satz korrekt. Und das ist wohl das Problem.

Der zwölfjährige Tamir Rice war an jenem Nachmittag mit einer Spielzeugpistole unterwegs. Die Beamten dachten fatalerweise, dass die Waffe echt sei. Jetzt wurden Bilder einer Überwachungskamera veröffentlicht, die den gesamten Vorgang zeigen. Das Schwarz-Weiß-Video scheint zwei verschiedene Tempi zu haben: Erst trottet der Junge langsam und ziellos über den Gehweg. Er stochert im Schnee herum, hebt die Pistole in die Luft, setzt sich auf eine Bank in einem Pavillon. Tamir wirkt gelangweilt. Minutenlang. Und dann, als wäre die Zeit vorgespult, rast ein Wagen ins Bild und hält wenige Meter vor dem Kind. Eine Sekunde – das Kind fällt zu Boden.

Ein Passant hatte die Polizei gerufen und am Telefon gesagt, dass die Pistole des afroamerikanischen Jungen „wahrscheinlich nicht echt sei“. Doch dieser Hinweis wurde den Beamten offenbar nicht weitergegeben. Wie die Polizei nun mitteilte, habe die Pistole täuschend echt ausgesehen, weil auch das orangefarbene Kennzeichen, das sie als Spielzeugwaffe kennzeichnete, abgekratzt gewesen sei. Außerdem habe sich der Junge Anweisungen widersetzt und in seinen Hosenbund gegriffen. „Wenn wir den Abzug drücken, dann weil wir das Gefühl haben, dass unser Leben in Gefahr ist“, sagte Jeff Follmer, Chef der Vereinigung der Streifenpolizisten in Cleveland. Das Video wurde nach Angaben der Polizei mit Zustimmung der Eltern von Tamir Rice veröffentlicht. Tamir starb am Sonntag an seinen Verletzungen.

Der Fall befeuert eine seit Monaten in den USA tobende Debatte um übertriebene Polizeigewalt. Im Juli starb der New Yorker Zigarettenverkäufer Eric Garner während einer Festnahme. Polizisten drückten den asthmakranken Mann auf den Boden, obwohl der immer wieder schrie, dass er keine Luft bekomme. Garner erlitt einen Herzinfarkt. Im August dann erschütterte der Tod von Michael Brown die Kleinstadt Ferguson und mit ihr ganz Amerika.

Im Fall des zwölfjährigen Tamir Rice aus Cleveland hat die Polizei nun die Ermittlungen eingeleitet. Wieso konnte es passieren, dass der Hinweis des Zeugen auf die Spielzeugwaffe nicht kommuniziert wurde? Hätten die Beamten die Situation nicht besser aus etwas Distanz beobachten sollen, um zu erkennen, dass das Kind ungefährlich ist? Warum zielte der 26-jährige Polizist direkt auf den Oberkörper anstatt auf die Beine? Und wieso setzte er überhaupt sofort eine Schusswaffe ein und nicht einen Elektroschocker? Viele offene Fragen.

Der Feiertag als Verschnaufpause

„Er war doch erst zwölf Jahre alt und wusste nicht, was er tat. Die Polizisten aber wussten, was sie tun“, sagte der Vater des Opfers einer Zeitung. Das Video zeige, dass die Polizisten sehr schnell schossen. Und der Anwalt der Eltern ergänzte: „Ein zwölf Jahre alter Junge ist doch kein ausgewachsener Mann.“ In Cleveland finden derzeit täglich Demonstrationen statt. Die zwei beteiligten Beamten sind vom Dienst suspendiert. Von einer Anklage des Schützen, der erst seit März für die Polizei arbeitet, geht niemand aus. Dafür sind Polizisten in den USA als juristische Personen zu stark.

In Ferguson hat sich die Lage inzwischen etwas beruhigt. Die meisten Einwohner in Ferguson, wo der 18-jährige Brown im August von einem weißen Polizisten erschossen worden war, blieben der Kälte und den Straßen fern und feierten im Familienkreis das US-Erntedankfest. Andere gingen zur Kirche und schmückten verrammelte Geschäfte, die aus Sicherheitsgründen weiter geschlossen blieben. Die Wellspring Kirche lud ihre Gemeinde zum alljährlichen Thanksgiving-Mahl ein.

Umzug in New York gestört

Der Feiertag könnte allerdings auch nur eine Verschnaufpause vor neuen Protesten sein, denn der Zorn der Menschen in Ferguson darüber, dass sich der Polizist für seine Schüsse nicht vor Gericht verantworten muss, schien noch nicht verebbt. "Ich weiß nicht, was passieren wird", sagte der Lokalreporter Alvin Reid. "Ich glaube, die Zeit heilt alle Wunden, aber wie lange das dauern wird, das weiß ich nicht." Für Freitag, dem traditionellen Einkaufstag nach Thanksgiving, haben Aktivisten und US-Prominente im Internet zum Shopping-Boykott aufgerufen. Am Samstag sind landesweit erneut Proteste gegen das Ferguson-Urteil geplant.

Was Cleveland und Ferguson vor allem eint: Der Großteil der Bevölkerung ist schwarz. Der Großteil der Polizei hingegen weiß. Die Menschen klagen sowohl unverhältnismäßige Polizeigewalt als auch Rassismus an. Der Todesschütze von Ferguson, der Polizist Wilson, äußerste sich kürzlich erstmals öffentlich in einem TV-Interview. „Ich habe meinen Job richtig gemacht“, sagte er.

Die Proteste außerhalb Fergusons gingen weiter. In New York versuchten am Donnerstag mehrere Demonstranten, den Thanksgiving-Umzug in der Stadt zu stören und Metallabsperrungen einzureißen. Nach Angaben der Polizei wurden sieben Menschen wegen "Ruhestörung" festgenommen. Unter dem Motto #stoptheparade (Stoppt den Umzug) war zuvor im Internet zu dem Protest aufgerufen worden. (mit AFP)

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