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Politik: Clinton in Deutschland: Was hat er, was wir nicht haben? (Leitartikel)

Er spielt Saxophon, hat Haschisch geraucht und außereheliche Verhältnisse gehabt. Er hat sich dem Vietnamkrieg entzogen, zeigt selbstironische Videos vom Treiben im Weißen Haus und stürzt seine Leibwächter in Panik, weil er das Protokoll durchbricht und in die nächstbeste Burger-Bude läuft.

Er spielt Saxophon, hat Haschisch geraucht und außereheliche Verhältnisse gehabt. Er hat sich dem Vietnamkrieg entzogen, zeigt selbstironische Videos vom Treiben im Weißen Haus und stürzt seine Leibwächter in Panik, weil er das Protokoll durchbricht und in die nächstbeste Burger-Bude läuft. Er hat keine Hemmungen, vor Kameras zu weinen oder lauthals zu lachen. Er ist jugendlich geblieben, strahlt Vitalität aus und hat, gegen fast alle Prophezeiungen, durchgehalten. Da stand ihm das Wasser wegen der Lewinsky-Affäre schon bis zur Nase. Gestatten: Bill Clinton. Der mächtigste Mann der Welt. Ein ungewöhnlicher, herausragender Präsident. In Europa ist er beliebter als alle seine Vorgänger bis hin zu John F. Kennedy.

Woran liegt das? Was ist sein Geheimnis? Sind es seine Schwächen, die ihn so sympathisch, weil menschlich wirken lassen? Oder sind es seine Leistungen, die selbst jenen Respekt abverlangen, die Amerika sonst eher kritisch beäugen? Wahrscheinlich stimmt beides. Von einer Persönlichkeit, die auch fehlbar ist, geht keine Bedrohung aus. Einer wie Bill Clinton taugt nicht als Feindbild. In seinem Land wird weiter die Todesstrafe vollstreckt, der Waffenbesitz erlaubt, an neuen Waffensystemen gebastelt. Doch der europäische Empörungsreflex darauf ist weit weniger intensiv, als er vor Clintons Amtsantritt war. Das transatlantische Verhältnis hat sich entspannt. Natürlich gibt es Kontroversen: der Handelsstreit, die Raketenabwehr, das Sorgerecht für entführte Kinder, die Entschädigung für NS-Zwangsarbeiter. Störungsfrei sind die Beziehungen nicht. Aber Clintons Art löst in Europa kein Misstrauen aus. Einer wie er und das Bild von einem Amerika, das als letzte verbliebene Supermacht die Welt dominieren will: Das passt nicht zusammen.

Auch gestern hat Clinton auf seine unnachahmliche Weise gezeigt, dass Stärke und Arroganz zwei verschiedene Dinge sind. Sein Land hat entscheidend dazu beigetragen, dass die großen Krisen in und um Europa entschärft wurden - vom Nahen Osten über Nordirland bis auf den Balkan. Aber Clinton hat Europa nicht spüren lassen, dass es alleine noch zu schwach dafür ist. "Lasst uns an der Kathedrale der europäischen Einheit weiterbauen", sagte er in Aachen bei der Karlspreisverleihung. Er hat die Partnerschaft betont, statt die Ungleichgewichtigkeit. Er ermuntert, statt zu protzen. Dabei weiß er ebenso gut, wie man es hierzulande wissen sollte: Amerikas Taten haben einen größeren Einfluss auf Europa als Europas Taten auf Amerika. Und das wird noch lange so sein.

Ein Selbstbewusstsein, das sich auf Stärke gründet, kann gelassen, ja zurückhaltend vorgetragen werden. Das zeigt Bill Clinton. Ein Selbstbewusstsein, das sich allein von der Vision einer zukünftigen Stärke nährt, tendiert zur Überheblichkeit. Das zeigt Gerhard Schröder. "Das europäische Modell ist dem amerikanischen langfristig überlegen": Mit diesem Satz lässt sich der deutsche Bundeskanzler ausgerechnet an dem Tag zitieren, der als Clintons Abschiedstag von Europa in die Annalen eingehen wird. Und der erstaunlichen Mobilität und Flexibilität der amerikanischen Gesellschaft, von der sich viele Länder eine Scheibe abschneiden können, stellt Schröder trotzig die "kulturellen Traditionen" gegenüber, die er "nicht einfach in den Orkus werfen will". Was ist das? "Peinlich" wäre ein zu hartes Wort. Nennen wir es etwas höflicher: ungeschickt.

In einem Punkt allerdings hat Schröder Recht: Europa muss seinen eigenen Weg finden. Es darf Amerika weder kopieren, noch aus der Abgrenzung zu Amerika seine Identität beziehen. Die Interessen auf beiden Seiten des Atlantiks sind nicht deckungsgleich. Sie müssen jedoch benannt werden, damit die Gegenseite sie versteht. Washington hat darin zwar mehr Übung als Brüssel. Aber Brüssel holt auf. Denn die Bedingungen sind günstig. Fast überall in Europa sitzen reformwillige sozialdemokratische Parteien in der Regierung. Sie könnten, wenn sie wollten. Eine konservative Opposition gegen den Fortschritt hat es schwer. Wie flexibel und pragmatisch Schröder auf Herausforderungen reagieren kann, hat er nicht zuletzt mit seiner Green-Card-Initiative bewiesen. Im Geiste also ist er Clinton schon ganz nahe. Wer weiß? Vielleicht half es ihm ja, dass Clinton Europa immer nahe war.

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