zum Hauptinhalt

Politik: D-Day im Kosovo - der Tag, an dem die Deutschen kamen

PRISTINA . Noch herrscht Ruhe im Lager der britischen "4th Armoured Brigade".

PRISTINA . Noch herrscht Ruhe im Lager der britischen "4th Armoured Brigade". Es ist Sonnabend, der 12. Juni. Im Halbdunkel steht dicht an dicht eine Ansammlung von Ungetümen aus Eisen und Stahl. Auf einem Panzer steht ein Soldat und putzt sich die Zähne. Andere liegen in ihren Schlafsäcken zwischen den Raupen auf dem Boden. Aus Schützenpanzern und Baggerkabinen kriechen verschlafene Männer hervor. Um fünf Minuten nach fünf geht es los. Die Operation "Joint Guardian" (Gemeinsamer Wächter) beginnt. Es ist der größte Bodeneinsatz in der Geschichte der Nato.

Fünf Puma-Transporthelikopter brausen über das Lager hinweg, dann vier Kampfhelikopter vom Typ Chinook. Weitere Hubschrauber folgen in kurzem Abstand. Den ganzen Tag lang wird die Luft von ihrem Lärm erfüllt sein. Manche tragen Geländewagen und Anhänger durch die Luft, später folgen einige mit Baggern an der Tragkette. Die andern transportieren Vorauskommandos mit Fallschirmjägern; ihr Ziel ist der Flugplatz von Pristina. Aus den Luken ragen die Läufe von Maschinengewehren heraus. Acht Helikopter formieren sich zu einem Kreis und drehen einige Minuten lang Warteschleifen, dann fliegen auch sie davon in Richtung Kosovo. Die jugoslawische Grenze liegt nur wenige Kilometer entfernt.

Die britischen Soldaten im Lager stehen auf ihren Fahrzeugen, trinken Tee und schauen dem Treiben in der Luft zu. "Irgendwann im Laufe des Vormittags fahren wir ab", sagen sie. Genaueres wissen sie nicht. Bis es soweit ist, überprüfen sie nochmals ihre Ausrüstung. Büchsen mit Handgranaten werden aus- und wieder eingepackt, Radnaben geschmiert, Schlafsäcke zusammengerollt und verstaut. Bei einem Landrover liegt eine Luftaufnahme von Urosevac ausgebreitet; die Aufnahme ist gestochen scharf. Das Gelände von Kosovo ist mit Flugzeugen und Drohnen in den letzten Monaten systematisch erkundet worden - man weiß, wo man hinfährt.

Dann, um halb acht Uhr, kommt Bewegung ins britische Lager. Der erste Trupp fährt los. Er besteht vorwiegend aus leichten Panzern, dazu kommen Landrover und drei Räumungspanzer mit gewaltigen Schaufeln, um den Weg freizumachen. Ein Panzer hat eine Aussichtskanzel; er ist zur Minenräumung bestimmt. Die Gefährte haben Namen wie "Decisive" und "Death Star", oder "Grolsch" und "Dingel Dirt Box"; ein Gefährt heißt "Democratic". Beim Lager Stenkovec warten die albanischen Flüchtlinge auf die Panzer der Nato und jubeln ihnen zu. Schon in der Nacht hatte das Vorrücken von einigen Panzern in Richtung Grenze zu einem Volksfest auf der Straße geführt. Die Menge rief begeistert "Nato - UCK, Nato - UCK".

Im Gefolge der Briten kommen auch rund 40 Fahrzeuge der Bundeswehr in das Kosovo. Ein Stück des Wegs legen sie gemeinsam zurück, dann schwenken sie bei Urosevac in das ihnen zugewiesene Gebiet im Südwesten des Kosovo ab. Jubelnd werden die deutschen Soldaten empfangen, die nach acht Stunden Fahrt in ihrem Zielort Prizren ankommen. Mit einer Blume in der Hand klettert eine junge Albanerin auf den Leopard-Kampfpanzer, küßt den Bundeswehrsoldaten, dessen Kopf oben aus der Luke ragt, auf beide Wangen und überreicht ihm eine Blume. Tausende Albaner stehen am Straßenrand, skandieren "Nato, Nato!".

Auf dem Weg nach Prizren sahen die Soldaten leere Dörfer, zerstörte Häuser, Schafherden ohne Hirten, ausgebrannte Autos. Und sie begegneten den mutmaßlichen Urhebern der Verwüstung: Hunderte serbische Soldaten, weit mehr und weit schwerer bewaffnet als erwartet, lassen ihrem Haß auf die Nato in Gesängen und Drohungen freien Lauf. Die Bundeswehr kommt in eine gespannte Nachkriegs-Situation.

"Es ist schon eine große Erleichterung, daß es jetzt endlich losgeht", sagt Oberstleutnant Maximilian Eder, der den deutschen Konvoi auf dem Weg zum mazedonischen Grenzübergang Blace kommandierte. Für die insgesamt 180 Soldaten begann der Einsatz zunächst mit stundenlangem Warten bei 35 Grad Hitze in ihren Panzern und Lastwagen im Stau an der Grenze: Britische Soldaten, die den Übergang zuvor passierten, mußten einige Minen entschärfen. "Unter keinen Umständen die asphaltierte Fahrbahn verlassen, rechts und links am Straßenrand könnte man sofort auf eine Mine treten!", schärft Eder allen noch einmal ein, bevor sie die Grenze überschreiten. 200 Meter weiter sind die Folgen des Krieges unübersehbar: Links der Straße liegen die Ruinen einer von der Nato zerstörten Zementfabrik. Rechts ein verlassener Bauernhof, vor der zerstörten Scheune stinkt ein totes Kalb in den Sommerhimmel. Süd-Kosovo wäre eine Idylle aus grünen Hügeln, duftenden Feldblumen, Eseln und Störchen, wenn der Krieg und seine Folgen nicht wären.

Die Panzer knattern auf einer Straße, auf der Tausende Albaner vor den Serben flohen. Am Wegrand liegen noch immer Schuhe und andere Habseligkeiten, die sie dabei verloren haben. Der Konvoi fährt durch unzählige Dörfer, in denen keine Menschenseele zu sehen ist. Statt dessen immer wieder serbische Soldaten: Einige stehen in Gruppen mit Waffen am Straßenrand, andere befinden sich in Bussen oder Militärlastwagen offenbar auf dem Rückzug aus der Region. In Urosevac schüttelt einer dem deutschen Konvoi drohend sein Gewehr entgegen und schreit Haßparolen. Viele Soldaten spreizen drei Finger zum serbischen Siegeszeichen. Bei Urosevac nimmt der deutsche Konvoi Kontakt mit einem Verbindungsoffizier der jugoslawischen Armee auf. Weil die Strecke von dort in Richtung Prizren als besonders minengefährdet gilt, fahren serbische Soldaten dem deutschen Konvoi vorweg. Die Bundeswehrsoldaten sind auf diesem Teil der Route sichtlich nervös, sie hatten weniger Serben erwartet.

Auch um Prizren, wo das Hauptquartier der Bundeswehr entsteht, ist die Lage unsicher. Noch bis vor kurzem lieferten sich hier serbische Einheiten und die Kosovo-Befreiungsarmee UCK Schußwechsel. Doch jetzt entschädigt der Jubel der Albaner für die Bilder der Zerstörung. In diesem Moment scheint der Krieg beinahe ein glückliches Ende gefunden zu haben. Aber in Prizren hängt an fast jedem Baum und jeder Laterne mindestens eine schwarz umrandete Todesanzeige.

Ganz ähnliche Bilder bekommen seit Sonnabend früh die Briten zu sehen. Ein mazedonischer Zöllner läßt die Journalisten mit Presseausweis im Schnellverfahren passieren, ohne die üblichen Formalitäten. Der jugoslawische Grenzposten liegt augenscheinlich verlassen da. Fast unversehens ist man um acht Uhr im Kosovo angelangt. Auf den ersten Blick hat sich wenig verändert in den letzten drei Monaten. Die Zementfabrik sieht so häßlich aus wie immer; allerdings stößt sie keine Staubwolken mehr aus. Kaputte Autos mit zerbeultem Blech und zertrümmerten Scheiben stehen am Straßenrand. Viele Leute haben hier nie gewohnt; daher fällt die Abwesenheit der Bevölkerung nicht besonders auf. Dann erblickt man Häuser ohne Einwohner. Sie sind geplündert, die Fensterscheiben eingeschlagen. An einer Wand prangt eine Spray-Inschrift: "Srbija" (Serbien). Am Straßenrand frißt ein Köter am Kadaver eines andern Köters. Gegen Mittag lastet über dem ganzen Tal eine brütende Hitze.

An Kreuzungen und Tankstellen hat die Nato Panzer aufgestellt. In der Nähe stehen jugoslawische Soldaten. Auf einer Nebenstraße steht ein Konvoi der serbischen Truppen zum Abmarsch in Richtung Norden bereit. Ein Stück weiter fährt ein Traktor mit Anhänger. Er ist mit Hausrat beladen. Oben ist ein Kinderfahrrad festgezurrt. Eine neue Bevölkerungsverschiebung ist im Gange: Die serbischen Einwohner fliehen aus Angst vor der Rache der zurückkehrenden Albaner. Pristina, die Hauptstadt des Kosovo, befindet sich noch ganz in der Hand der serbischen Truppen. Auf der Straße sieht man nur wenige Leute, vorwiegend Polizisten und Journalisten. Sie haben sich vor dem "Grand Hotel" versammelt und festgestellt, daß es ausgebucht ist. Es fehlen die Privatquartiere, die früher zur Verfügung standen, denn die meisten Zimmervermieter sind geflohen. Auch hier: Das Stadtzentrum ist nicht stark zerstört, die Wohnblocks und Hochhäuser sehen unversehrt aus. Allerdings sind alle albanischen Läden geplündert. Die Hauptwache der Polizei und der Sitz der Provinzverwaltung sind durch Bomben verwüstet.

Die Umgebung Pristinas macht bei einsetzender Dunkelheit, heftigem Regen und Hagelschlag einen gespenstischen Eindruck. Nahe dem Denkmal von Obilic - dort, wo 1389 die Serben auf dem Amselfeld ihre historische Niederlage gegen die Türken erlitten - brennen zwei Häuser; beißende Rauchschwaden ziehen über das Feld. Die Zerstörung der albanischen Siedlungen geht weiter. Plötzlich ist ein Bewaffneter zu sehen, der betrunken ist. Gewehrsalven knattern. Das Klima von Haß und Unsicherheit ist nicht überwunden.

ANDRES WYSLING

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false