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Politik: Das Alphabet, das bleibt

Von Susanne Vieth-Entus

Das heute beginnende Schuljahr dürfte in die Berliner Bildungsgeschichte eingehen. Niemals seit der Wiedervereinigung mussten so viele Schulreformen umgesetzt werden. Noch nie waren so viele Kinder, Lehrer und Erzieher betroffen. Besonders gravierend ist, dass alle Grundschulen von 7.30 bis 13.30 Uhr für die Kinder da sein müssen, egal ob Unterricht ausfällt oder das Thermometer „hitzefrei“ zeigt. Kaum jemand muss sich noch darüber Sorgen machen, ob sein Kind unversehrt von der Schule in den Hort kommt – die Horte sind ab sofort an die Schulen angegliedert, und überall gibt es Mittagessen. Für Familien sind dies unschätzbare Vorteile.

Aber auch die Oberschüler erleben einen wichtigen Einschnitt: Sie müssen am Ende der 10. Klasse zentrale Prüfungen ablegen. Erstmals wird damit sichergestellt, dass alle Absolventen bestimmte Mindeststandards erfüllen. Erstmals wird man die Leistungen von Realschülern, Gesamtschülern und Gymnasiasten wirklich untereinander vergleichen können. Die Liste der Veränderungen ist aber noch viel länger: sie reicht von der früheren Einschulung der Fünfeinhalbjährigen bis hin zur Vorbereitung des Zentralabiturs.

Oft ist darüber diskutiert worden, ob Bildungssenator Klaus Böger den Schulen zu viele Veränderungen auf einmal aufbürdet. Selbst belastbare Schulleiter und Lehrer, selbst reformfreudige Eltern halten das Tempo für übertrieben und befürchten Nachteile für die Kinder.

Tatsächlich gibt es Risiken. So entsteht durch die vorgezogene Schulpflicht ein besonders heterogener und großer Jahrgang: Es gibt Schulen mit bis zu sechs ersten Klassen, und in allen treffen Fünfjährige auf Siebenjährige. Ein großes Risiko ist auch der mittlere Schulabschluss: Wenn die Lehrer – warum auch immer – ihre Schüler nicht angemessen auf den Stoff der zentralen Prüfungen vorbereiten können und diese die Mittlere Reife „verhauen“, werden nicht nur die Eltern die Schuldigen suchen. Andererseits hatten die Lehrer in den vergangenen zwei Jahren die Möglichkeit, die Abschlussprüfungen der Zehntklässler zu proben.

Ähnliches gilt für die Grundschullehrer: Viele Schulen haben bereits Erfahrungen mit altersgemischten Klassen. Seit zwei Jahren gibt es dafür verstärkt Fortbildungen. Zudem wird die engere Zusammenarbeit mit den Erzieherinnen in den Schulhorten dazu beitragen, schwierige Schüler und Klassen besser in den Griff zu bekommen.

Sicher wäre es leichter für die Schulen, kämen nicht alle Neuerungen auf einmal. Aber vor allem die Grundschulreformen dulden keinen Aufschub. Besonders wichtig ist die frühere Einschulung: So aufnahmefähig wie zwischen fünf und sieben Jahren sind Kinder nie wieder. Es wäre fatal, diese Phase zu verpassen, denn viele Eltern sind nicht mehr in der Lage, ihre Kinder zu fördern – ein Drittel der Berliner Erstklässler spricht zu Hause kein Deutsch. Ein Fünftel aller Berliner Schüler lebt laut Kinderschutzbund in Armut. Nicht erst die jüngste „Intelligenzdebatte“ kreist darum, dass sich die Anlagen eines Kindes nur in geistig anregender Umgebung voll entfalten können. In Berlin gibt es aus unterschiedlichen Gründen zehntausende Familien, in denen diese Anregung fehlt.

Vor diesem Hintergrund ist es richtig, alle Reformen anzupacken, die Erfolg versprechen – und dafür auch Risiken und Ängste in Kauf zu nehmen. Dieses Schuljahr wird nicht nur bildungs-, sondern auch sozialpolitisch ein Meilenstein.

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