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Politik: „Das Aussitzen der Pflegereform ist unchristlich“

Diakonie-Präsident Gohde über getäuschte Bürger, pflichtvergessene Politiker – und zu stille Helfer

In der Pflege gibt es erst Verbesserungen, wenn sich die Einnahmen erhöhen, sagt Wolfgang Zöller, der Sozialexperte der Union. Wie finden Sie das?

Zunächst einmal: Versichert heißt nicht gut gepflegt. Spätestens seit 1998 wissen wir, dass die Einnahmen nicht ausreichen, um den Entwicklungsbedarf der Pflegeversicherung zu decken. Von daher ist die Äußerung aus finanzieller Sicht richtig. Aber sie ist falsch angesichts der Herausforderungen, denen sich die Pflegeversicherung stellen muss. Wir haben eine eindeutige Zunahme dement erkrankter Menschen. Wir haben Strukturprobleme. Und jeder weiß, dass das Risiko der Pflegebedürftigkeit in den nächsten Jahren für jeden Einzelnen zunehmen wird und als Risiko nicht persönlich getragen werden kann.

Das heißt: Eine Pflegereform darf nicht an der Geldnot des Staates scheitern?

Die Pflege zählt zu den Vertrauensgütern in unserer Gesellschaft, die sich nicht privatisieren lassen und die wir nicht einfacher Marktlogik unterwerfen dürfen. Es muss ein verlässliches Zugangsrecht zu Pflegeleistungen und sozialer Teilhabe geben. Das bedeutet, die Politik ist in der Pflicht, in der nächsten Legislaturperiode klare Lösungen zu bringen. Wir gehen auf eine Situation zu, wo wir sehr viel mehr Menschen als Pflegende haben müssen.

Warum hat man die drängenden Probleme politisch so auf die lange Bank geschoben?

Menschen, die gepflegt werden, sind still. Pflegende schreien in der Öffentlichkeit zu wenig. Wir brauchen eine breite gesellschaftliche Diskussion. Wir steuern auf eine älter werdende Gesellschaft zu und es fällt mir zunehmend auf, wie stark die demografische Situation bei der Sicherung der Sozialsysteme in der Wahlkampfdiskussion ausgeblendet wird.

Man lässt die Menschen im Unklaren, beschönigt die Situation. Werden wir mit einer Pflegelüge abgespeist?

Die Pflegelüge haben wir längst. Die Tatsache, dass eine Pflegeversicherung besteht, suggeriert ja, dass ausreichend Pflege vorhanden ist. Das stimmt aber nicht. Die Leute besorgen sich längst privat Pflegekräfte. Hätten wir nicht so viele Osteuropäer, die hier arbeiten, wäre die ambulante Versorgung in Ballungsräumen überhaupt nicht mehr gewährleistet.

Wer lügt denn beim Thema Pflege? Alle?

Es gibt eine Übereinkunft, an diese Frage nicht heranzugehen. Man hätte sie bei den großen Reformen, nach der Agenda 2010, in breitem Konsens lösen können. Das Gesundheitsministerium hat ja Vorschläge gemacht. Man hat dann die Übereinkunft getroffen: Wir dürfen Menschen nicht weiter belasten. Aber man übersieht, dass Familienmitglieder von Demenzkranken, die ihre Angehörigen zu Hause pflegen, dies bis an den Rand ihrer Kräfte tun. Solange dies – 75 Prozent der Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt – stillschweigend geschieht, wird sich nichts ändern. Das Problem ist, dass wir das Thema rein ökonomisch diskutieren und die eigentlichen Fragen nicht stellen: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Welche Verantwortung müssen wir selber übernehmen? Wie lässt sich das nachhaltig möglich machen? Und wo liegt die Grenze persönlicher Belastbarkeit?

Es geht also nicht nur um den privaten Kapitalstock, den beide große Parteien fordern?

Die stärkere Heranziehung einer Kapitaldeckung ist angesichts steigender Ausgaben unausweichlich. Allerdings dauert das. Und ich habe dabei das gleiche Problem wie bei der Umlagefinanzierung: Beides setzt auf entsprechende Wertschöpfung. Außerdem sind viele nicht in der Lage, Eigenverantwortung zu realisieren. Was sollen all die Menschen mit niedrigen Gehältern damit eigentlich noch alles hinkriegen? Zur Risikoabsicherung braucht es zwingend ein solidarisches System. Hier ist dann zu fragen, wie ich die Belastungen verteile.

Vielleicht, wie es die SPD vorschlägt: über eine Bürgerversicherung?

Es gibt viele Modelle, die man durchrechnen muss. Meine These ist: Man muss alle Einkommensarten heranziehen. Und der Steueranteil muss erhöht werden. Eine Gesellschaft, die die Frage Arm oder Reich zum Kriterium macht für die Versorgung alter Menschen, verschiebt die Entscheidungsposition zwischen Eigenverantwortung und solidarischem Eintreten an die falsche Stelle. Dadurch bringen wir Pflegende in eine ausweglose Situation. Und bekommen eine öffentliche Debatte, die sich aus Angst speist. Wie schon jetzt beim Thema Sterbehilfe. Komme ich in eine Situation, in der ich nicht mehr anständig versorgt werde oder Schmerzen ertragen muss, die ich nicht ertragen kann? Wir müssen uns verantwortlich dafür fühlen, dass Arme und Reiche das erhalten, was sie brauchen. Auch Respekt und Würde und Zärtlichkeit.

Würden Sie sagen: Das Aussitzen der dringend nötigen Pflegereform ist unchristlich?

Das Aussitzen dieses Themas ist nicht nur unchristlich, es gefährdet auch die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft hochgradig

Glauben Sie denn, dass eine christdemokratische Regierung die sich immer weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich wieder schließen könnte?

Die Schere zwischen Arm und Reich lässt sich nationalstaatlich überhaupt nicht schließen. Daher brauchen wir eine europäische Diskussion um Sozialmodelle. Wir müssen uns verständigen über das, was zählt. Wir müssen Solidarität und Wettbewerb, Eigenverantwortung und gesellschaftliche Aufmerksamkeit versöhnen. Und es geht um die Frage, mit welchem Menschenbild. Ich bin überzeugt, dass das christliche die Möglichkeiten bietet, Lösungen zu finden. Das heißt aber auch, dass ich wissen will und wissen muss, was los ist, was der Einzelne braucht und dass man Menschen nicht als Kostenfaktoren verrechnet.

Wie christlich sind denn die Christdemokraten noch mit ihrer Sozialpolitik?

Christen sind in allen Parteien tätig. Die Frage der Christlichkeit entscheidet sich daran, wie die Position des christlichen Menschenbildes handlungsleitend wird. Ich persönlich habe an die Christdemokraten hier eine ganze Reihe von Fragen. Und wir werden diese Fragen auch stellen.

Das Gespräch führte R. Woratschka

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