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Politik: Das Deutsch-Prinzip - von Malte Lehming

Fast jeden Tag werden aus Deutschland Menschen abgeschoben. Darunter sind harte, das Herz zerreißende Schicksale.

Fast jeden Tag werden aus Deutschland Menschen abgeschoben. Darunter sind harte, das Herz zerreißende Schicksale. Nur wenige dringen an die Öffentlichkeit. Doch Abschiebungen sind ein notwendiges Übel. Sie sind die Kehrseite eines reichen, attraktiven Landes, das Verfolgten Schutz bietet, Ausländer anlockt und üppige Sozialleistungen bietet. Wer hier dauerhaft leben will, muss sich an die Gesetze halten, integrationswillig sein und eine Reihe anderer Bedingungen erfüllen. Wer das nicht tut, fliegt raus. So sind die Regeln.

Am Mittwochabend wurde die 17-jährige Kurdin Hayriye Aydin vom Bundespräsidenten im Schloss Bellevue empfangen. Horst Köhler würdigte die Schülerin für ihr ehrenamtliches Engagement gegen Antisemitismus. Helfen allerdings wollte er ihr nicht. „Ein Rechtsstaat ist ein Rechtsstaat“, sagte er. Der Fall hat bundesweit Schlagzeilen gemacht. Die Familie der Vorzeigemuslimin soll in wenigen Wochen in die Südtürkei abgeschoben werden. Vor mehr als 16 Jahren waren die Eltern nach Deutschland gekommen und hatten sich offenbar unter falschem Namen Asyl erschlichen. Daher sei deren Ausweisung im „öffentlichen Interesse“, meint Berlins Innensenator Ehrhart Körting. Für die drei ältesten Kinder, darunter auch Hayriye, hatte Körting bis zum Abschluss der Schulzeit ein Bleiberecht erlassen. Die Eltern und die jüngeren Kinder indes sollen Deutschland jetzt verlassen. Das Recht hat Körting auf seiner Seite. Aber er könnte anders. Die Berliner Härtefallkommission hat sich gegen eine Abschiebung ausgesprochen. Auch für sie wiegt die mustergültige Integration der Familie, in der zu Hause Deutsch gesprochen wird, allemal schwerer als der mutmaßliche Gesetzesverstoß vor vielen Jahren. Die Kinder, die Deutschland als ihr Zuhause empfinden und kein anderes haben, dürfen nicht für die Fehler ihrer Eltern haftbar gemacht werden. Das Auseinanderreißen der Familie ist inhuman.

Den Empfehlungen der Härtefallkommission ist Körting oft gefolgt. Diesmal aber bleibt er auf eine Weise stur, die so unverständlich ist, dass sie Verdacht erregt. Gemunkelt wird, Körting wolle sich nicht dem Missfallen von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble aussetzen. Was umgehend dementiert wird. Deutschland tut sich schwer mit seinen Ausländern. Wenn es um sportliche Leistungen geht, wie bei den Fußballspielern Paulo Rink, Gerald Asamoah, Oliver Neuville oder Sean Dundee, verläuft die Einbürgerung manchmal rasend schnell. Wenn in der Computerbranche Fachkräfte fehlen, buhlt man um jeden Inder. Je akuter der Bedarf, desto großzügiger sind die Behörden bei der Deutschwerdung. Wer etwas anzubieten hat, wird gern genommen. Zu Recht.

Derselbe Pragmatismus fehlt aber in vielen Flüchtlings- und Asylverfahren. Auch hier sollte, jenseits aller Emotionen, mehr gesunder Menschenverstand walten. In die Ausbildung der Aydin-Kinder zum Beispiel hat die Stadt Berlin bereits erhebliche Mittel investiert. Was spricht dagegen, die Familie hier weiter wohnen, leben und arbeiten zu lassen? Das Prinzip, lautet die deutscheste aller Antworten. Der frühe Gesetzesverstoß. Doch was formal stimmen mag, führt hier zu absurden Konsequenzen. Ob hessisches Einwanderungsquiz oder baden-württembergischer Gesinnungstest: Hayriye würde bei beiden wohl ganz gut abschneiden. Sie und ihre Familie trotzdem abzuschieben, zeugte von Gefühls- und Vernunftsverwirrung. Es wäre ein Skandal.

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