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Politik: Das dicke Ende - folgen bald italienische Verhältnisse - und steht der organisierte Konservatismus in Deutschland vor der Auflösung?

Was wird aus der CDU, wenn das System Kohl sie nicht mehr zusammenhält? In der "Welt" malte ihr kürzlich der CSU-Rechte Peter Gauweiler das italienische Menetekel an die Wand: Nach dem großen Korruptionsskandal Anfang der neunziger Jahre hat sich die Democrazia Cristiana aufgelöst und ist in diverse mehr oder weniger bedeutungslose politische Bestandteile zerfallen.

Was wird aus der CDU, wenn das System Kohl sie nicht mehr zusammenhält? In der "Welt" malte ihr kürzlich der CSU-Rechte Peter Gauweiler das italienische Menetekel an die Wand: Nach dem großen Korruptionsskandal Anfang der neunziger Jahre hat sich die Democrazia Cristiana aufgelöst und ist in diverse mehr oder weniger bedeutungslose politische Bestandteile zerfallen. Blüht den deutschen Christdemokraten ein ähnliches Schicksal?

Mit jedem Tag erscheint dieser Gedanke weniger abwegig. Und zwar nicht nur, weil die Partei durch Strafzahlungen an den Rand des finanziellen Ruins geraten könnte - und weil mit dem neuesten Eingeständnis Wolfgang Schäubles die Wahrscheinlichkeit wächst, dass ihre gesamte aktuelle Führungsspitze die Spendenaffäre politisch nicht überleben wird. Existenz bedrohend ist für die Christenunion vor allem die ungeklärte Frage, wofür sie in Zukunft politisch stehen soll. Zur Disposition gestellt ist nichts weniger als die ideologischen, philosophischen und moralischen Grundlagen des organisierten demokratischen Konservatismus in Deutschland.

Noch vor wenigen Monaten schwammen die Konservativen auf einer Woge der Wählerzustimmung, die selbst kühnste Optimisten so kurz nach der niederschmetternden Bundestagswahlniederlage vom Herbst 1998 nicht erwartet hätten. Aber die Euphorie über haushohe Wahlsiege in den Ländern und sagenhafte Umfrageergebnisse auf Bundesebene verdeckte, dass die CDU schon seit langem programmatisch von ihrer Substanz lebt. Die neue Führung um Schäuble und Angela Merkel setzte auch in der Opposition die Linie Helmut Kohls fort, im Interesse des Machterhalts interne Richtungskämpfe um jeden Preis unter dem Deckel der Parteidisziplin zu halten. Doch jetzt, da die Demontage des alten Patriarchen zur Neudefintion christdemokratischen Selbstverständnisses zwingen wird, drohen diese unausgetragenen Gegensätze mit umso größerer Heftigkeit zum Ausbruch zu kommen.

Vor der Zerreißprobe

Tatsächlich ist die Spannweite der politischen Ausrichtungen in der CDU noch weit größer als in der Sozialdemokratie, die ihre ärgsten Zerreißproben im Augenblick erst einmal hinter sich zu haben scheint. Das CDU-Führungszentrum um Schäuble und Merkel betrachtet die CDU als eine zentristische bürgerliche Reformpartei, die den Erhalt eines vorsichtig zu reformierenden Sozialstaats mit maßvoller Deregulierung und Entstaatlichung verbinden und die Bejahung von europäischer Integration und weltwirtschaftlicher Globalisierung mit dem Bekenntnis zur Stärkung traditioneller identitäts- und Werte stiftender Gemeinschaften wie Familie, Gemeinde, Region und Nation in Übereinstimmung bringen soll.

Der sozialpolitische Flügel um Norbert Blüm, Heiner Geißler und die christlich-demokratische Arbeitnehmerschaft warnt dagegen vor einer zu einseitig wirtschaftsfreundlichen Politik und fordert, in Zukunft wieder verstärkt auf staatliche Regulierung und den Konsens mit den Gewerkschaften zu setzen. Im krassen Gegensatz dazu steht eine dezidiert wirtschaftsliberale Tendenz, wie sie am deutlichsten der rheinland-pfälzische CDU-Landesvorsitzende Christoph Böhr vertritt. Böhr verlangt die Abkehr vom Wohlfahrtsstaatsprinzips und die Rückkehr zur genuinen Philosophie der Marktwirtschaft: Soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche Solidarität erwüchsen aus der freien Entfaltung der Individuen und ihres Wettbewerbs auf dem Markt, nicht durch staatliche Fürsorge. Gerade die umfassende existenzielle Absicherung der Bürger fördere Passivität und Verantwortungslosigkeit und damit den Verfall des moralischen Zusammenhalts der Gesellschaft.

Nationale und Konservative

Geißler und Blüm argumentieren in der Tradition der christlichen Soziallehre, nach der die Verfügungsgewalt über das Eigentum an dessen Verpflichtung auf ein übergeordnetes Gemeinwohl gebunden ist. Böhr dagegen hält die Wirtschafts- und Wettbewerbsfreiheit nicht nur für den einzigen Garanten wirtschaftlicher Effektivität, sondern auch für die Quelle ethischer Werte in der Gesellschaft. In ihrem uneingeschränkten Vertrauen auf die Segnungen des freien Marktes und des unbehinderten wissenschaftlich-technischen Fortschritts berühren sich Böhrs Positionen zwar durchaus mit denen der nationalkonservativen Richtung, die von CSU-nahen Köpfen wie Roland Koch repräsentiert wird. Ordnungs- und sozialpolitisch vertreten die Nationalkonservativen jedoch einen etatistischen Paternalismus, der sich lieber auf die harte Hand eines starken, weisen Staats als auf das freie Spiel der Kräfte verläßt. Und während die "Neoliberalen" naturgemäß eher supranational-grenzenlos denken, legen die Nationalkonservativen großen Wert auf die Bewahrung "deutscher Identität" - welche nach dem Verständnis der CSU durch eine dezidierte Pflege "gewachsener" regionaler Eigenständigkeit abgesichert werden muß.

Von solchen Gegensätzen, die nicht nur politisch-strategischer, sondern grundlegend weltanschaulich-philosophischer Natur sind, droht die konservative Union zerrissen zu werden. Gegründet wurde sie einst als Block der traditionell widerstreitenden Komponenten des nationalkonservativ und klerikal orientierten bürgerlichen Lagers sowie der christlichen Arbeiterbewegung. Die überkonfessionelle und klassenübergreifende Einheitspartei sollte nach 1945 die alte Zersplitterung aufheben, die das konservative Bürgertum der Weimarer Republik gegenüber dem Ansturm des Extremismus handlungsunfähig gemacht hatte. Sein Pathos gewann dieser erneuerte Konservatismus aus einer moderne-kritisch untermauerten Distanzierung vom Nationalsozialismus. Die NS-Herrschaft wurde als Symptom des umfassenden Unheilszusammenhangs einer nihilistischen Moderne aufgefaßt, die durch einen fundamentalen Werteverfall und durch den Abfall des Menschen von Gott und der Religion gekennzeichnet sei. Im Kontrast zu einem so umgedeuteten Nationalsozialismus konnten die Konservativen als die authentischen Bewahrer ursprünglicher menschlicher Würde erscheinen.

Dieser christlich-existentialistische Nachkriegs-Konservatismus implizierte eine skeptische Distanz zur liberal-individualistischen Zivilisation des Westens und zum Wirtschaftswunder-Materialismus der jungen Bundesrepublik. Adenauers und Erhards Konzept der "sozialen Marktwirtschaft" versuchte diese Distanz zu überbrücken, indem es das Bekenntnis zur freien Wettbewerbswirtschaft mit der Aufwertung traditioneller Werte stiftenden Institutionen wie Familie, Kirche und Staat verband, die ein ordnendes Gegengewicht zum massendemokratischen Individualismus der modernen Industriegesellschaft darstellen sollten.

Dieses paternalistische Konzept einer durch Traditionalismus gezügelten Modernisierung trug nicht mehr, seit in den sechziger Jahren die zweite Nachkriegsgeneration zum Sturm auf autoritäre Überreste des deutschen Obrigkeitsstaats blies und die sozialliberale Regierung eine stabile Basis im "verwestlichten" Bürgertum gewann. Die CDU-Führung reagierte darauf, indem sie - unter Federführung ihres damaligen Generalsekretärs Geißler - seit Ende der siebziger Jahre ihren Frieden mit dem Sozialstaat und den neuen, vom Hedonismus und Pluralismus der westlichen Konsumwelt geprägten gesellschaftlichen Schichten machte und die Christdemokratie in eine gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen aufgeschlossene Reformpartei verwandelte.

Freilich fiel es damit auch immer schwerer, sie substanziell von ihrem sozialdemokratischen Hauptkonkurrenten zu unterscheiden. Daher wird im christdemokratischen Lager jetzt vereinzelt der Ruf lauter, das konservative Profil zu schärfen. Doch der Versuch einiger jungkonservativer Theoretiker, die Rückwendung zu überkommenen Werten und Tugenden zum Akt der Rebellion gegen einen herrschenden Werterelativismus zu erklären und damit als das wahrhaft "Neue" hinzustellen, bietet keine realpolitische Perspektive. Die programmatischen Kurskorrekturen der Partei gehen einstweilen jedenfalls in die andere Richtung. Mit der Zustimmung zur rechtlichen Gleichstellung nichtehelicher - wenn auch (noch) nicht gleichgeschlechtlicher - Lebensgemeinschaften signalisiert die Parteiführung, dass sie sich den Lebensrealitäten der pluralistischen Gesellschaft weiter anpassen will und ihr Heil nicht etwa in einem wertkonservativen Fundamentalismus sucht.

In der linken Mitte

Eine starke Gruppe unter den jüngeren Hoffnungsträgern möchte auf diesem Weg sogar noch entschiedener vorangehen. Erneuerer wie der Bundestagsabgeordnete Peter Altmeier befürworten beispielweise ein modernisiertes Staatsbürgerschaftsrecht, das an Liberalität weit über das jetzt in Kraft getretene hinausgeht.

Der Grundkonflikt zwischen pragmatischer Fortschrittsorientierung und regressivem Beharrungswillen ist den Selbstdefinitionsversuchen des demokratischen Konservatismus inhärent. Er muß sich als Speerspitze gesellschaftlicher Modernisierung und zugleich als Garant überhistorischer Traditionen und Werte präsentieren, sich weit bis zur linken Mitte hin offen halten und zugleich der radikalen Rechten den Wind aus den Segeln nehmen.

In diesem Spagat ist die politisch-philosophische Substanz des Konservatismus im Laufe der Zeit immer weiter erodiert. Auf das grundsätzliche Ja zum Erbe der säkularisierenden Aufklärung und zu den Prinzipien der liberalen Verfassungsdemokratie folgte die Zustimmung zum Modell des sozialen Wohlfahrtsstaates. Der Konservatismus hat damit die Kernideen aller großer historischer Strömungen in sich aufgenommen, in Gegnerschaft zu denen er sich im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert konstituiert hatte: zum Fortschrittsgedanken und zum Menschheitsideal des revolutionären Bürgertums, zum wirtschaftlichen und ethischen Individualismus der liberalen Bourgeoisie und zur Gerechtigkeitsmaxime der sozialistischen Arbeiterbewegung.

Geistig-moralische Spende

Alle diese Gegentendenzen versuchte der Konservatismus aufzufangen, indem er sie mit angeblich unwandelbaren Werten wie Nation, Staat, Gemeinschaft, Glaube und Familie zu verbinden und ihnen damit die subversive, hierarchische Ordnungen bedrohende Spitze zu nehmen versuchte. Doch indem sich konservatives Denken den säkularen Idealen der demokratischen Massengesellschaft immer weiter öffnet, reduziert sich der wertkonservative Vorbehalt gegen die auflösende Dynamik der Moderne zunehmend auf eine inhaltsleere rhetorische Geste.

Denn gerade den Anspruch, bei allem machtpolitischen Pragmatismus in besonderer Weise für die Bewahrung "geistig-moralischer Werte" zuständig zu sein, wird man den Konservativen nach dem Spendenskandal nun am allerwenigsten abnehmen können.

Richard Herzinger

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