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Politik: Das Ende der Denkpause naht

Europas Politiker rätseln ein Jahr nach dem vorläufigen Scheitern der EU-Verfassung über weiteren Weg

Ein Jahr nach der Ablehnung der Europäischen Verfassung in Frankreich und in den Niederlanden sucht die EU weiter nach einem Ausweg aus der Krise. Während die Denkpause immer noch andauert, forderte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso am Dienstag in Brüssel, verstärkt auf die Bedürfnisse der Bürger einzugehen. Bei einer Konferenz nationaler und europäischer Abgeordneter im Europaparlament sagte Barroso, Europa müsse jetzt „konkrete Ergebnisse“ vorweisen. Als Beispiele nannte der Kommissionschef die Sicherung von Renten und Arbeitsplätzen. Diese Dinge lägen Europas Bürgern eher am Herzen als die Frage, wie die EU-Institutionen in Zukunft besser funktionieren könnten.

Einen Anstoß zur Verfassungsdebatte will die EU-Kommission dennoch mit einem Papier geben, das Barroso und die Vizepräsidentin der Kommission, Margot Wallström, an diesem Mittwoch in Brüssel vorstellen wollen. Darin wird vorgeschlagen, die Zusammenarbeit der EU-Staaten bei Justiz und Polizei zu vereinfachen. Bis jetzt können Beschlüsse der 25 EU-Staaten hier nur einstimmig gefasst werden. „Wir brauchen mehr Europa, nicht weniger Europa“, sagte Barroso am Dienstag. Dabei nannte er die Bekämpfung des Terrorismus, den Umweltschutz und die Energiepolitik als Bereiche für ein stärkeres Zusammenwirken. Der Vorstoß stieß umgehend auf breite Kritik. „Das Europa der vielen kleinen Projekte kann kein Ersatz für das große Projekt der Europäischen Verfassung sein“, sagte der Vorsitzende des Verfassungsausschusses, Jo Leinen (SPD), am Dienstag in Brüssel. Leinen meinte: „Indem Barroso einige Stücke aus dem Verfassungsvertrag herausschneidet, schiebt die Kommission diesen auf die lange Bank.“ Die Vorsitzenden der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament, Hartmut Nassauer und Markus Ferber, sprachen sich „gegen neue Zentralisierungstendenzen“ aus. Bei ihrem nächsten Gipfel am 15. und 16. Juni wollen die europäischen Staats- und Regierungschefs eine Zwischenbilanz nach der einjährigen Denkpause im Verfassungsprozess ziehen. Der Präsident des Europaparlaments, Josep Borrell, wandte sich dagegen, die Pause weiter zu verlängern. Gleichzeitig räumte er aber auch ein: „Niemand hat erwarten können, dass wir den Stein der Weisen finden könnten, der uns den Weg aus der Krise aufzeigt.“ Zunächst sollen jetzt die EU-Außenminister am 27. und 28. Mai bei einem Treffen über das weitere Vorgehen beraten.

Offenkundig sind also bei der Lösung des europäischen Verfassungsdilemmas keine schnellen Antworten zu erwarten. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte am Dienstag in Berlin in einer Rede zur Zukunft Europas, es dürfe „keinen Schnellschuss“ geben. Deutschland übernimmt in der ersten Hälfte des kommenden Jahres die EU-Ratspräsidentschaft – also zeitgleich mit den Präsidentschaftswahlen in Frankreich, wo die Verfassungskrise mit dem Referendum im Mai 2005 ihren Ursprung nahm. Merkel verdeutlichte allerdings auch, dass sie insgesamt am Ziel einer EU-Verfassung festhalte. Dem schloss sich auch der finnische Ministerpräsident Matti Vanhanen an, der im Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. „Die Verfassung ist nicht tot“, sagte Vanhanen am Dienstag bei einer Veranstaltung der Deutschen Welle in Berlin. Vor den Wahlen in Frankreich und in den Niederlanden im kommenden Jahr werde es zwar keine endgültige Entscheidung geben. „Wir können aber auch nicht bis dahin warten und die Bedenkzeit fortsetzen.“ Die EU müsse auf der Basis bestehender Verträge effektiver gestaltet werden. Zugleich warnte Vanhanen davor, das ausgehandelte Paket wieder aufzuschnüren und nur einzelne Teile des Entwurfs umzusetzen. „Wir wollen die Verfassung als Ganzes“, sagte er. Demgegenüber hat die Regierung in Frankreich in den vergangenen Monaten verstärkt die Idee eines „Europa der Projekte“ ins Spiel gebracht; sie soll dazu dienen, den EU-Bürgern anstelle der Verfassung den praktischen Wert Europas vor Augen zu führen.

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