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Politik: Das Ende des Egoismus

Die SPD kann nicht glücklich sein über ihren Kanzlerkandidaten. Bei jeder neuen Umfrage steht die Partei schlechter da. Und bis zur Bundestagswahl sind es am Sonntag auch nur noch 161 Tage. Da ergreift Peer Steinbrück beim Programmparteitag in Augsburg die letzte Gelegenheit zu zeigen, was in ihm steckt.

Von Hans Monath

Er braucht nicht mal zwei Minuten, um aus einer Selbstverständlichkeit einen politischen Knaller zu machen. Da schon, nach drei Sätzen, ruft Peer Steinbrück: „Ich will Kanzler der Bundesrepublik Deutschland werden.“ Jubeln, Klatschen, Pfeifen der 600 Delegierten des SPD Parteitags in Augsburg. Sie springen von ihren Sitzen auf und wollen gar nicht mehr aufhören. „Langsam, langsam“, sagt Steinbrück, aber diese Mahnung will jetzt keiner hören.

Es ist ein überraschend früher, erlösender Moment. Jeder im Saal der Augsburger Messe kennt die schlechten Umfragewerte für den Redner. Die Kurve zeigt nach unten. Die Zweifel am Sieg der SPD bei der Bundestagswahl sind in den Reihen der Sozialdemokraten stark. Viele sind mit dem bangen Gefühl zum Parteitag gefahren, dass die Öffentlichkeit sie und ihren Spitzenmann schon abgeschrieben hat.

Dass nun ausgerechnet er, der von schlechten Nachrichten geradezu verfolgt wird, so knallhart den Willen zeigt, es dennoch zu schaffen, das beeindruckt dann aber doch gewaltig. Mit so einem wie dem, das spüren sie, kann man wenigstens in den Kampf ziehen. Der hat, obwohl ihm der Wind eiskalt ins Gesicht weht, noch längst nicht aufgegeben. Das ist ansteckend.

Aber Steinbrück macht auch danach noch vieles richtig. Mit seiner Botschaft vom Wir wird er das Grundgefühl der SPD treffen, er wird ihre Sehnsucht nach Gerechtigkeit bedienen, er wird die Zähmung des entfesselten Finanzkapitalismus versprechen, das Land loben und die schwarz-gelbe Bundesregierung als Versager in den Senkel stellen. Kurzum, er wird all das tun, was notwendig ist, wenn man eine verzagte Partei wieder aufrichten will.

Noch am Morgen hätten wohl nicht viele im Saal darauf gewettet, dass so etwas klappen und Peer Steinbrück das Bild des vorzeitigen Verlierers korrigieren würde. Da ist die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth, die in ihrer Heimatstadt vor den Delegierten eine Gastrede hält. Noch nie hat eine Grünen-Vorsitzende auf einem SPD-Parteitag geredet. Jetzt tut das Roth – doch das gemeinsame Ziel Rot-Grün scheint in weite Ferne gerückt.

Roth trifft den richtigen Ton: Witzig, werbend und auch ein bisschen frech gegenüber dem Wunschpartner SPD beschwört sie die verbindenden Werte, spricht über die gemeinsamen Regierungsvorhaben. Doch eines ist sehr auffällig: Mehrmals wendet sie sich direkt an Parteichef Sigmar Gabriel, den sie duzt. Doch den Namen des Mannes, an dessen Kabinettstisch sie nach dem 22. September sitzen will, erwähnt sie nicht. Die Grünen, so scheint es, wollen nicht angesteckt werden von der Pechsträhne Steinbrücks – und sie wollen schon gar nicht für dessen schlechtes Ansehen verantwortlich gemacht werden.

Die Sozialdemokraten tun sich ebenfalls schwer mit der Lage, aber Steinbrück einfach ignorieren wie Roth, das können sie natürlich auch schlecht. Jeder weiß, es geht nur mit ihm. Ein Wechsel des Kandidaten 161 Tage vor der Wahl würde alles nur schlimmer machen.

„Die Umfragen legen sich ganz schön auf die Stimmung“, fasste ein älterer Delegierter aus Hessen am Morgen die Stimmung bei der Anreise zusammen. Was weniger am Programm der Sozialdemokraten liegt, wohl aber an den vielen kleinen und großen Pannen, die sich mit dem Kandidaten verbinden.

„Zunächst“, sagt der Hesse, „haben wir gedacht, nach den ersten Stolperern wird sich alles regeln.“ Das aber tat es nicht. Bis zuletzt, als Steinbrück sich damit herumschlagen musste, dass ausgerechnet eine Leiharbeitsfirma seit Jahren den Satz, den die SPP zu ihrem zentralen Wahlkampfslogan erkoren hat, „Das Wir entscheidet“, verwendet. Eigentlich kein großes Problem, schließlich kennt kein Mensch diese Firma, und rechtlich geschützt hatte sie den Slogan auch nicht. Steinbrück jedoch wurde sofort unterstellt, er und sein Team hätten geschlampt. „Zu blöd zum Googeln“, titelte die Tageszeitung „taz“, und der Kandidat wurde abermals tagelang nicht nach Inhalten des SPD-Wahlprogrammes gefragt, sondern nur, wie es zu der Panne gekommen war.

Im Zug nach Augsburg müssen Berliner Deligierte wieder nur Berichte über „Pannen-Peer“ in der Zeitung lesen. „Wir lassen uns nicht verdrießen“, sagte eine Berliner Sozialdemokratin. Selten zuvor habe die SPD so ein linkes und klares Programm gehabt. Vermögenssteuer, Mindestlohn. „Wir wollen mit diesem Programm gewinnen“, sagte sie und fügte hinzu: „Trotz Peer“.

Sigmar Gabriel, der Parteivorsitzende, weiß um diese Stimmung, als er an diesem Sonntag den Parteitag in Schwung bringt und damit den Boden bereitet für den späteren Auftritt Steinbrücks. Gabriel weiß auch, dass Wahlkampfthemen wie höhere Steuern für Spitzenverdiener und gesetzliche Mindestlöhne bei den Menschen ankommen. Nicht nur Minijobber und Arbeitslose haben den Eindruck, dass der soziale Zusammenhalt in der Gesellschaft verloren geht und sich die Lebensumstände von Kleinverdienern und Managern immer weiter entfremden. „Das Zeitalter des Egoismus“, ruft Gabriel den Delegierten zu, „muss endlich zu Ende sein.“ Fünfzig Minuten, und damit viel länger als geplant, redet Gabriel.

Es soll eine ArtArbeitsteilung mit Steinbrück werden. Zu wenige Menschen, die hart arbeiteten, sagt er, könnten von ihrer Hände Arbeit leben, zu viele Reiche hätten Chancen, ihr Vermögen ins Ausland zu bringen und sich der Finanzierung der Gesellschaft zu entziehen. „Die wahren Asozialen“, nennt Gabriel jene, die ihre Kinder in kostenlose Schulen schicken und in subventionierte Theatervorstellungen gehen und am Jahresende an der Finanzierung dieser Infrastruktur trotzdem nicht teilnehmen wollen, indem sie sich vor Steuerzahlungen drücken. Ihnen wolle die SPD den Kampf ansagen. „Sozial ist das, was Arbeit schafft, von der man leben kann“, sagt Gabriel und kündigt an, „diesem Kapitalismus den Kampf“ anzusagen und dafür zu sorgen, dass die Regeln der sozialen Marktwirtschaft wieder gelten.

„Lasst uns einen Aufbruch wagen“, ruft er den Leuten zu und mahnt sie eindringlich, den Mut zum Wahlkampf trotz der schlechten Umfragewerte nicht zu verlieren. Zentral seien diese Umfragewerte nicht, „zentral ist die Haltung, die wir im Wahlkampf einnehmen, denn sie entscheidet über den Ausgang der Wahl.“

Gabriel sagt es nicht, aber man kann es trotzdem heraushören: Der SPD-Vorsitzende setzt in den nächsten Monaten nicht in erster Linie auf die Zugkraft des Kanzlerkandidaten, sondern vor allem auf die Überzeugungskraft des Wahlprogramms, das in Augsburg verabschiedet wird. Mit dessen Inhalten will er die Leute zur Wahl ermuntern und zur Abstimmung gegen die schwarz-gelbe Bundesregierung von Angela Merkel, dieser „sympathischen Anscheinserweckerin“, deren Regierungsverständnis nur im „Tarnen und Täuschen“ liege.

Gabriel hält eine gute Rede. Aber er ist Vorsitzender, nicht Kanzlerkandidat. Die Wahl muss vor allem ein anderer gewinnen. Schon dessen Nominierung in Hannover war überschattet von einem Umfrageabsturz wegen der Honorardebatte.

Peer Steinbrück verschafft sich an diesem Sonntag Luft. Wieder einmal. Er macht vieles anders als vor fünf Monaten. Kein einziges entschuldigendes Wort bekommen die Delegierten von Steinbrück zu hören – und offensichtlich vermissen sie es auch nicht. Damit drückt er aus: Er macht nicht eigene Schwäche verantwortlich für die miesen Umfragewerte, auf die er auch nur ein einziges Mal zu sprechen kommt. Er wisse um die „inzwischen im Zwei- Tage-Rhythmus erscheinenden Meinungsumfragen“, sagt er. Aber er kenne auch die Wahlergebnisse, etwa in Niedersachsen. Bei keiner einzigen der vergangenen zwölf Landtagswahlen habe Schwarz- Gelb eine eigene Mehrheit erringen können. „Und da sind die Umfragekönige von Schwarz-Gelb im Abwind, und wir sind im Aufwind.“

Ein Problem Steinbrücks, so sagen manche Beobachter und so sehen es auch manche seiner Mitarbeiter, besteht darin, dass er auf viele Wähler zu kalt wirkt, zu besserwisserisch, zu unpersönlich mit seinem profunden Wissen eines ehemaligen Finanzministers, der die Mechanik der Märkte versteht. Aber in Augsburg gelingt es ihm, sich als einer zu präsentieren, der nah bei den Menschen ist und ihre ganz alltäglichen Probleme kennt. Noch nie sind in einer Rede von ihm so viele konkrete Menschen aufgetaucht wie an diesem Sonntag – er hat sie alle kennengelernt auf seiner Vorwahlkampftour durch Deutschland. Nun sind sie zum Teil sogar in den Augsburger Saal gekommen, um sich anzuhören, was er von ihnen gelernt hat.

Da ist die Leipziger Unternehmensgründerin Katja von der Burg, die es ohne eine Kita nicht geschafft hätte, sich selbstständig zu machen. Da ist der 16-jährige Deutschtürke Bahran Kücüc, der in Deutschland leben und gleichzeitig seinen türkischen Pass behalten will. In Nürnberg hat er elf Frauen getroffen, die gemeinsam eine Alten-Wohngemeinschaft aufgemacht haben, die auf den schönen Namen „Olga“ hört („Oldies leben gemeinsam aktiv“). Er hat mit ihnen Kaffee getrunken und ihnen zugehört. „Mein Gott, wart ihr auf Draht“, sagt er.

Sie alle erscheinen auf der großen Leinwand, wenn Steinbrück über sie erzählt. Die Delegierten beklatschen die tatkräftigen alten Damen mit ihren Brillen, weiten Pullovern und grauen Haaren. Und auf einmal erscheint der häufig schroff und abweisend wirkende Politiker Steinbrück als einer, der Menschen versteht und sich Freundschaften erwerben kann. Das Versprechen, das hinter Steinbrück in großen Buchstaben an der Wand prangt, „Das Wir entscheidet“, er kann es in diesem Moment tatsächlich mit Leben zu füllen.

In seinen Schlussworten nimmt Steinbrück diese Botschaft noch einmal auf. „Das Wir entscheidet, darauf wird es ankommen“, donnert er in den Saal und zeigt mit dem Daumen auf die großen Buchstaben hinter seinem Rücken. Fast 80 Minuten hat er zu den Delegierten gesprochen, und sie sind ihm gefolgt.

Ob er selbst daran geglaubt hat, dass er sie gegen alle Zweifel noch einmal hinter sich scharen und ihnen Mut zusprechen kann? Auffällig ist jedenfalls, wie verzagt anfangs die Gesten des Redners wirken, wie energisch er die Fäuste ballt und die Arme nach oben reißt, aber das legt sich. „Auf in den Kampf, noch 161 Tage bis zum Wahlkampf“, ruft er, und sein ganzer Körper schnellt nach vorne: „Noch 161 Tage, um zu mobilisieren. Besinnen wir uns auf diese Kraft.“

So ähnlich war es auch schon in Hannover, wo er verlorenes Vertrauen durch einen Spitzenauftritt zurückgewann. Doch wenn es diesmal nicht aufwärts geht, hat er nicht mehr viele Gelegenheiten, um mit einem Kraftakt neu zu starten.

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