zum Hauptinhalt

Politik: Das Geheimnis des Erfolgs

Von Peter von Becker

Natürlich ist dieses Wochenende wieder ein Fest. Der neue, der sechste „Harry Potter“, soeben weltweit auf Englisch erschienen, beschert Millionen sprachkundigen Fans ein Lesefest und der vom Aschenputtel zur Milliardärin avancierten Autorin Joanne K. Rowling weitere Auflagerekorde. Ein wahres Märchen. Harry, vom kleinen Zauberlehrling selber zum jugendlichen Meistermagier und Zauberprinzen geworden, gießt so auch etwas Balsam auf die vom Terror geschundene englische Seele. Seit Shakespeare und den Beatles hatte Britannien keinen solchen kulturellen Exportschlager mehr.

Also ein Fest, nach dem Schrecken. Das ist der erste Gedanke. Doch dann spielt schon die Eröffnungsszene von „Harry Potter and the HalfBlood Prince“, dessen über 600 Seiten die globale Gemeinde jetzt liest, in Downing Street Nr. 10. Englands Premier trifft den Zaubereiminister aus dem Reich der magischen Parallelgesellschaft, weil es im Lande unerklärliche Morde gibt, Attentate, einstürzende Brücken. Und der Minister der (guten) Magier erklärt dem Premier: „Wir sind im Krieg.“ Das spielt im Juli, im Märchen – als wär’s ein Stück Wirklichkeit.

Bald werden die Bilder vom Londoner Bahnhof King’s Cross, in dessen Untergrund Feuerwehr und Polizei eben noch gegen Tod und Verwüstung gekämpft haben, wieder anderen Bildern weichen. Und man will bei Harrys Reise ins neue Zauberschuljahr nach Hogwarts nicht unbedingt an den 7. Juli 2005 denken. Obwohl von King’s Cross, Bahnsteig Neundreiviertel, auch diesmal der Express ins Reich der Magier startet. Das ist zunächst Zufall, nur eine makabere Koinzidenz.

Jenseits des Oberflächigen aber gibt es vielererlei Untergründiges, das Joanne K. Rowlings Märchen mit unserer Zeit verbindet. Eben erst hat der britische Marktforscher Stephen Brown in seinem Buch „Die Botschaft des Zauberlehrlings“ das Marketing-Genie der Autorin und die vier Potter-Prinzipien („Product, Price, Promotion, Place“) amüsant analysiert.

In dieser Saga steckt freilich mehr als ein in den Formeln des Marketings fassliches Rezept. Es ist nicht nur ein Kinderspiel mit Spitzhut und Zauberstab, kein Dauerhalloween. „Harry Potter“ gehört auch zur Erwachsenen-Literatur; und neben einigen amerikanischen Fundamentalisten, die die Bücher schon als Hexenwerk verbrannt haben, soll sogar der lesehungrige („potter“-kundige?) Papst zu Kardinalszeiten sein Misstrauen gegenüber „H.P.“ bekundet haben.

Ja, es gibt keinen Gott in Harrys Welt. Nur magische, jahrhundertalte Halbgötter. Trotzdem haben große Erfolgsbücher, mit denen Millionen Menschen ihr Leben, Lesen und Sehnen teilen, immer eine quasi-religiöse Funktion. Denn sie sind Spiegel und Projektionsfläche eines kollektiven Unterbewusstseins. Auf der ersten Ebene – für uns ewige Kinder – locken bei „Harry Potter“ die Schülerstreiche, das Feuerzangbowlenhafte, die Internatsromanze. Dazu Pubertät und Erwachsenwerden: Auch der neue alte Bildungsroman trifft offenbar ein Bedürfnis – und jeder Schuss Magie tut einer entzauberten Welt erst mal gut.

Neben der Vielfalt von Spannungsmomenten, den ingeniös geknüpften Motivketten und Anspielungen hat das Märchen allerdings einen ungeheuren Subtext. Tatsächlich erzählt Joanne K. Rowling in ihrem sich von Band zu Band verdüsternden Epos von einem clash of civilizations. Von einem Kampf der Kulturen, in dem Harry Potter zuletzt, im kommenden siebten Buch, das mörderisch fundamentalistische Terrornetzwerk des Schwarzen Lords vielleicht zerschlagen wird. Aber der Sieg des modernen, moralischen Magiers über den totalitär rassistischen, orthodoxen Ur-Zauberer könnte zugleich das Ende aller Magie bedeuten. Die Halbgötterdämmerung.

Dann wäre Harry Potter ein Mensch wie wir, wäre die Spannung gelöst und die Geschichte erfüllt. Bis dahin unterhält Joanne Rowling weiter die Ängste und Sehnsüchte ihres verzauberten Publikums.

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false