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Politik: Das Gespenst der Spaltung

Die Staatsmacht der Ukraine geht auf Distanz zu ihrem Kandidaten – spielt allerdings weiter auf Zeit

Draußen vor dem altehrwürdigen Gerichtsgebäude liefern sich Tausende der Anhänger von Premier Viktor Janukowitsch und Oppositionschef Viktor Juschtschenko einen ohrenbetäubenden Parolenwettstreit. Drinnen wuchtet der Anwalt der ukrainischen Opposition dem Obersten Gerichtshof des Landes einen ganzen Umzugskarton voller Akten als Beweis für die vermutete Fälschung der Präsidentenwahl auf den Tisch. Die Annullierung des umstrittenen Urnengangs in acht Wahlkreisen im Osten und Süden des Landes hat die Opposition beantragt. Doch es wird immer wahrscheinlicher, dass die Entscheidung des Gerichts überflüssig werden könnte, denn inzwischen hat Noch-Präsident Kutschma sich selbst öffentlich für Neuwahlen ausgesprochen.

Der Gerichtshof hatte schon lange vor den Protesten Zivilcourage bewiesen – und einige Oppositionsanträge zugelassen. So untersagten die Richter die frühzeitige Ausrufung von Janukowitsch zum Wahlsieger und bereits vor der Wahl die von der Regierung beabsichtigte Einrichtung von Wahllokalen in Moskau.

Vom Premier und Staatspräsidenten-Kandidaten Janukowitsch war am Montagabend noch keine Stellungnahme zu Kutschmas Ankündigung zu hören. Bisher schien er genauso wenig wie sein Rivale bereit, eine Niederlage zu akzeptieren. Die unklare Rechtslage lässt auch den möglichen Zeitpunkt eines neuen Urnengangs im Dunklen. Muss nur die Stichwahl wiederholt werden, scheint der von der Opposition angestrebte Wahltermin Mitte Dezember denkbar. Sollte auch der erste Wahlgang neu angesetzt werden, dürfte erst 2005 gewählt werden.

Während auch zu Wochenbeginn Zehntausende von Oppositionsanhängern in Kiew gegen die Skandalwahl protestieren, schien die Staatsmacht weiterhin auf Zeit zu spielen. Bei Neuwahlen im Frühjahr rechnen politische Beobachter mit dem Austausch von Janukowitsch als Kandidaten Kutschmas. Statt des wegen seiner kriminellen Vergangenheit umstrittenen Premiers könnte der scheidende Präsident etwa Parlamentspräsident Litwin oder den bisherigen Nationalbankchef Sergij Tihipko zum Kronprinzen küren. Auffällig genug setzte sich Tihipko zu Wochenbeginn von Janukowitsch ab, dessen Wahlkampf er koordiniert hatte. Er halte eine Wahlwiederholung für die beste Lösung, sagte Tihipko – und legte wegen nicht näher erläuterter „politischer Ambitionen“ seine Ämter als Wahlkampfleiter und Nationalbankchef nieder.

Janukowitschs Versuch, seine Präsidentenkür mit der Autonomiedrohung des russischsprachigen Ostens durchzudrücken, stieß zu Wochenbeginn selbst im eigenen Lager auf zunehmende Ablehnung. Tihipko bezeichnete eine Spaltung des Landes als „Wahnsinn“, auch Kutschma nannte sie „nicht hinnehmbar“. Deutlich rückte auch der Ex-Präsident Leonid Krawtschuk von dem Premier ab. Der beste Weg aus der Krise wäre, wenn Kutschma den diskreditierten Janukowitsch absetzen und Juschtschenko zum Premier ernennen würde, so ein westlicher Diplomat. Nach der folgenden Abdankung Kutschmas könnte Juschtschenko laut Verfassung dann als geschäftsführender Staatschef neue Präsidentschaftswahlen ausrufen. Wahrscheinlich sei die aber nicht: „Denn leider hat Kutschma noch immer nicht begriffen, dass seine Zeit vorbei ist.“

Das sah am Montagabend schon anders aus: Kutschmas Lösungsvorschlag ging überraschend ins Detail. Der politische Kompromiss könnte in eine „Verfassungsvereinbarung, die vom Parlament verabschiedet wird“, münden. Eine andere Möglichkeit sei es, die Wahlzettel in den ostukrainischen Gebieten Donezk und Lugansk neu auszuzählen, wo nach Auffassung der Opposition besonders rüde gefälscht worden war.

Thomas Roser[Kiew]

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