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Das Interview mit Eren Keskin: "In der Innen- und Außenpolitik wird alles von der Armee bestimmt"

Die türkische Bürgerrechtlerin Eren Keskin ist wegen einer Äußerung in dem nachfolgend abgedruckten Tagesspiegel-Interview vom 24. Juni 2006 verurteilt worden. Darin kritisiert Keskin die Rolle der türkischen Armee. Anlass war ein Anschlag auf das oberste Verwaltungsgericht der Türkei. Eren Keskin sagt, sie würde sich heute wieder genauso äußern. Mit ihrem Einverständnis dokumentieren wir an dieser Stelle das Interview vom 24. Juni 2006.

Nach dem Anschlag auf das oberste Verwaltungsgericht der Türkei im Mai wurde im Lande allenthalben für die Verteidigung der laizistischen Republik demonstriert. Warum demonstrierten Sie nicht mit, Frau Keskin?

Als Menschenrechtlerin verurteile ich diesen Anschlag natürlich. Mir ist aber auch klar, wenn ich den Zeitpunkt des Anschlags, die Täter und deren Hintergrund sehe, dass es keineswegs darum ging, die staatliche Ordnung zu zerstören, wie es der Öffentlichkeit suggeriert wird. Es ging im Gegenteil darum, die autoritär-laizistische, totalitäre und militaristische Staatsordnung der Türkei zu stärken - und das ist auch gelungen.

Wer steckte Ihrer Ansicht nach denn hinter dem Anschlag?

Dahinter steckt die Organisation, die hierzulande "dunkler Staat" genannt wird. Diese Organisation ist an die Abteilung für Sonderkriegsführung beim Generalstab der Armee angebunden und besteht im Grunde aus Staatsbeamten. Sie wird von jeher für den Erhalt der autoritären Staatsordnung und gegen jegliche Öffnung des Systems eingesetzt. In der Innen- wie in der Außenpolitik wird alles von der Armee bestimmt. Egal wie sichtbar eine zivile Regierung in der Türkei auch sein mag, bis heute hat es keine einzige Zivilregierung vermocht, ihr Regierungsprogramm umzusetzen. Die Türkei wird im Grunde mit dem "Nationalen Sicherheitsdokument" regiert, das vom Militär ausgearbeitet wird. Keine Regierung kann sich gegen dieses Dokument wenden. In dem Moment, wo sie es versucht, geschehen immer solche Anschläge.

Wer ist am Erhalt dieses Systems interessiert und warum?

Das Militär bestimmt in der Türkei nicht nur die Innen- und Außenpolitik, es tritt auch als große Wirtschaftsmacht auf. Mit ihrer "Oyak"-Holding ist die türkische Armee in 30 verschiedenen Wirtschaftsbranchen tätig. Von dieser Macht will sie nicht ablassen, diese Macht verteidigt sie mit Zähnen und Klauen - und dazu braucht sie Feinde, innere und äußere. Auch der Anschlag auf den Verwaltungsgerichtshof ist verübt worden, um Ängste im Volk zu schüren. "Der Laizismus ist in Gefahr, unsere einziger Rettung ist die Armee", soll es heißen. Diejenigen, die jetzt zur Verteidigung des Laizismus auf die Straße gehen, die täten besser daran, gegen die staatlichen Killertrupps zu demonstrieren.

Woher droht der Türkei mehr Gefahr, vom Islamismus oder vom Militarismus?

In der Türkei gibt es keine islamistische Gefahr. Auch ich bin gegen den politischen Islam und bekämpfe ihn politisch. Aber so eine Gefahr gibt es hier nicht. Was es hier gibt, das ist eine militärische Staatsstruktur, die eine solche Gefahr vorgaukeln will, weil das ihre Macht stärkt. Mit der Kurdenfrage ist es genauso: Im kurdischen Teil des Landes dauert der Krieg an, weil damit stets die Gefahr einer Teilung des Landes beschworen werden kann - und das Militär sich dadurch die Unterstützung des Volkes sichert. Leider wird die Rolle der Armee in der Türkei nicht einmal diskutiert. Nehmen Sie das Oyak-Gesetz von 1961, mit dem die Wirtschaftsunternehmen der Armee von allen Steuern und Gebühren befreit wurden und damit ungerechte Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Marktteilnehmern erhielten. Das wird in der Türkei von niemandem in Frage gestellt. In welchen anderen Demokratien besitzt die Armee wohl Banken? In welchen Ländern besitzt die Armee Autofabriken?

Wie denkt die türkische Armee Ihrer Meinung nach über einen EU-Beitritt?

Ich nehme der Armee nicht ab, dass sie den EU-Beitritt der Türkei unterstützt. Die Militärs wollen zwar auch nicht, dass der Faden zwischen der EU und der Türkei ganz abreißt, aber meiner Ansicht nach hätten sie es am liebsten, wenn die Türkei eine Sonderpartnerschaft mit der EU einginge. Denn wenn die Türkei der EU als Vollmitglied beiträte, müsste sie wirklich demokratisch werden. Dann hätte das Militär es nicht mehr so einfach, könnte zum Beispiel nicht mehr so leicht Killertrupps losschicken. Europäische Freunde erzählen mir, dass in einem EU-Staat nicht jeder unbedingt den Namen des Generalstabschefs weiß - das ist hierzulande unvorstellbar. Aber das ist Demokratie. Bei uns dagegen fährt Ministerpräsident Erdogan nach Diyarbakir und sagt: Ja, wir haben ein Kurdenproblem, wir müssen über Lösungen diskutieren. Und zwei Tage später meldet sich der Generalstab und sagt: Es gibt kein Kurdenproblem, das ist ein Terrorproblem. Wenn dies ein demokratisches Land wäre, dann hätte der Ministerpräsident diesen Generalstabschef entlassen.
Das Gespräch führte Susanne Güsten

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