zum Hauptinhalt

Politik: „Das ist ein Umsturz“

Der Soziologe Ulrich Beck über den Abschied von der sozialen Sicherheit – und was danach kommen wird

Ulrich Beck (60) lehrt an der Uni München und der London School of Economics. Er prägte den Begriff „Risikogesellschaft“ und schrieb zuletzt über „das kosmopolitische Europa“.

Herr Beck, was bedeutet der Staat derzeit aus der Perspektive seiner Bürger?

Vor allem erwartet der Bürger Sicherheit. Das ist das Versprechen, mit dem der deutsche Nationalstaat seine Geltung gewonnen hat, Sicherheit nach innen wie nach außen, im sozialen Sinn wie im militärischen. Der Staat monopolisiert Gewalt und schafft damit die Voraussetzung für ein gewaltfreies Miteinander der Bürger. Dazu sorgt er für ein bestimmtes Niveau sozialer Sicherheit, das an Erwerbsarbeit gekoppelt ist, begleitet durch ein sozialpolitisches Programm Bismarckscher Prägung.

Ist das zu viel erwartet?

In der veränderten Situation am Beginn des 21. Jahrhunderts schon. Diese Erwartungen sind typisch kontinentaleuropäisch, auch typisch deutsch, und zusätzlich noch dadurch radikalisiert, dass der Staat in der DDR ein echter Garant für Erwerbsarbeit war und selbst Arbeit schuf. Jetzt erleben wir einen Umbruch von relativ stabiler Erwerbsarbeit hin zu flexibilisierten und fragilen Arbeitsformen, zugleich werden massenhaft Menschen aus der Arbeit und damit aus der Gesellschaft herausgedrängt. Das ist mehr als ein struktureller Wandel, das ist ein Umsturz.

Unternehmen beschränken sich in wirtschaftlich schlechten Zeiten auf ihr Kerngeschäft. Gilt das auch für den Staat?

Das genau ist die Frage, und ich kann nicht erkennen, dass sie in der Politik oder bei den Bürgern angemessen diskutiert wird. Doch wir müssen aufpassen. Wir sollten nicht das amerikanische Modell kopieren, bei dem sich der Staat weitgehend aus der sozialen Sicherung herausgehalten hat.

Die USA sind eine erfolgreiche Gesellschaft …

… aber Europa hat eine andere Tradition. Wir definieren Staat und Demokratie in engem Zusammenhang mit Solidarität. Solidarität ist eine Kernaufgabe des Staates, auch wenn wir den Wohlfahrtsstaat nicht mehr in der Form erhalten können, die er die letzten 50 Jahre hatte. Nur müssen wir die nationale Brille absetzen. Wohin man schaut, dieselbe Situation, überall in Europa: Die Rentensysteme funktionieren nicht mehr, die Überalterung droht, Reformen werden blockiert. Ein wichtiger Fortschritt könnte darin liegen, den Zusammenhang von Bevölkerungsrückgang, notwendigen Reformen der Sozialsysteme und Migrationspolitik als ein europäisches Problem zu definieren und kooperativ anzugehen.

Welche Risiken liegen im Rückzug des Staates?

Die Deutschen setzen Demokratie mit Wohlstand gleich. Wir sind auf die Erfahrung nicht vorbereitet, dass die Demokratie zwar frei macht, nicht aber notwendigerweise reich. Demokratie und Armut, Arbeitslosigkeit und Unsicherheit können einhergehen. Wir müssen begreifen, dass Demokratie und Freiheit selbst Werte und erstrebenswert sind und nicht nur der Wohlstand, den sie einst versprach. Und das in einer Situation, in der nahezu alles unsicher geworden ist. Man kann nicht mehr planen, welchen Beruf man ergreift, man weiß nicht, ob die Ausbildung, die man macht, sich auszahlt, nicht einmal in den klassischen akademischen Berufen.

Müssen wir uns künftig allein um unsere Rente kümmern?

Vorläufig kann sich der Staat hier nicht zurückziehen, er sollte es auch nicht. Die Ökonomen empfehlen das zwar immer wieder, sie setzen dabei aber eine Stabilität von Marktbeziehungen voraus, die es nicht gibt. Beispiel Amerika: Als dort der Aktienmarkt zusammengebrochen ist, hat sich eine ganze Generation von ihrer erwarteten Rente verabschieden müssen. Das mögen Amerikaner, wo der Markt fast ein Fetisch ist, noch akzeptieren. Bei uns ist das unzumutbar. Was wir brauchen, ist eine Art Grundsicherung, ein Bürgergeld, das alle Situationen abpuffert, in denen jemand nicht mehr arbeiten kann. Denn das ist das Dilemma, in dem wir stecken: Einerseits flexibilisieren wir den Arbeitsmarkt, andererseits nehmen wir dadurch Frauen die Möglichkeit, sich für Kinder zu entscheiden. Das Bürgergeld könnte auch gezahlt werden, wenn jemand eine Auszeit von seinem Job nehmen und sich politisch oder sozial engagieren will. Wenn die Menschen über eine solche Sicherung verfügen, kann man ihnen auch mehr Unsicherheit zumuten.

Aus welchen Bereichen darf sich der Staat keinesfalls zurückziehen?

Aus der Bildung. Wenn nichts mehr Sicherheit gibt, die Familie nicht, die Religion nicht, die Klasse nicht, dann bleibt nur Bildung. Und zwar nicht nur eine Bildung, die einen Menschen auf einen Arbeitsplatz vorbereitet, den es drei Jahre später nicht mehr gibt, sondern eine, die Grundkenntnisse, Selbstbewusstsein und die Fähigkeit vermittelt, sich zu informieren und sich darzustellen. Bildung ist die Sozialversicherung, die nach der Sozialversicherung kommt.

Braucht der Staat Beamte?

Unbedingt. Beamte sind die organisierte Vertretung des Allgemeininteresses. Das privatisieren zu wollen, ist ein historischer Irrtum. Privatisierung ist kein Patentrezept – sie kann ein unvorstellbares Chaos erzeugen, wie das Beispiel England und die Eisenbahn zeigt.

Wenn der Staat sich zurückzieht – schwindet dann auch seine Legitimation?

Die rot-grüne Regierung erweckt derzeit den Anschein, dass sie die Wahrheit mit Löffeln gefressen hat und dass die Bürger das leider nur noch nicht eingesehen haben. Das ist eine autoritäre Wende in der Politik. Das Gegenteil wäre richtig: Man muss die Reformen im Diskurs mit den Bürgern entwickeln – und dabei eigene Unsicherheiten eingestehen. Es ist ein elitäres Missverständnis zu meinen, die Bürger bräuchten Versprechen – wie zum Beispiel die Wiederkehr der Vollbeschäftigung – , die man im Zweifel nicht halten kann. Das produziert nur Enttäuschung. Ein ehrlicher Diskurs würde den Staat besser legitimieren, gerade in Zeiten seines Rückzugs.

Das Gespräch führte

Jost Müller-Neuhof

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false