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Politik: Das jüngste Gerücht

Drohten die Grünen mit dem Auszug aus dem Kabinett? Eine viel sagende Spekulation

Berlin - Liegen bei Gerhard Schröder die Nerven blank? Oder wollte er nur die Partei zusammenschweißen, gegen den Rest der bösen Welt? Hat er das Gerücht wirklich ernst genommen oder wollte er nur verhindern, dass die SPD es ernst nehmen könnte, weil nichts mehr unmöglich scheint in diesen aufgewühlten Tagen? Das Gerücht, mit dem sich der Kanzler beschäftigt hat auf der Krisensitzung des SPD-Vorstands am Dienstagabend im Willy-Brandt-Haus, geht so: Die Grünen, bei den beschlossenen Neuwahlen in ihrer Existenz bedroht, treten ebenfalls die Flucht nach vorne an und ziehen ihre Minister aus dem Kabinett zurück.

Kaum zu glauben, aber wahr: Schröder geht ungefragt auf dieses Gerücht ein, indem er es vor Dutzenden Sozialdemokraten dementiert, wie einige von ihnen danach berichten. Er habe gerade mit Joschka Fischer telefoniert, die Geschichte sei „erstunken und erlogen“, wird der Kanzler übereinstimmend zitiert. Die Genossen sollten sich bitte nicht verunsichern lassen von Gerüchten, die vom politischen Gegner gestreut und von Journalisten verbreitet würden, um die Koalition auseinander zu treiben.

„Schröder lässt sich von Fischer Koalitionstreue garantieren“ – diese Schlagzeile hätte der Kanzler in normalen Zeiten nicht riskiert, so viel scheint sicher. Aber die Zeiten sind nicht normal für die SPD und ihren Spitzenkandidaten. Es geht jetzt um mehr als die Koalition, es geht um seinen Ruf als Reformer, und dazu braucht er eine verschworene Partei. Auf der Sondersitzung der Fraktion sagt Schröder: „Ich weiß genau, was ich der Partei schuldig bin, und ich werde ihr nichts schuldig bleiben.“

Schon am Vorabend im Vorstand haben Sozialdemokraten einen vergleichsweise verständnisvollen Kanzler erlebt, der wenig spricht und viel zuhört – fast vier Stunden lang. Nicht alles kann ihm gefallen, was da gesagt wird. Es gibt Kritik an der Neuwahl-Entscheidung, Einzelne machen „defätistischen Bemerkungen“ über die Wahlchancen, so ein Vorstandsmitglied. Die ehemalige Berliner Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing verlangt, auf die Unternehmensteuersenkung zu verzichten. Außerdem fordern jüngere SPD-Linke im Verein mit Sigmar Gabriel, dem ehemaligen Ministerpräsidenten von Niedersachsen, eine Verjüngung der SPD auf allen Ebenen. Am Ende aber fühlt sich selbst die Parteilinke verstanden, als Schröder sagt, es gehe im Wahlprogramm darum, die „richtige Balance“ zwischen seiner Politik der Agenda 2010 und einer „Perspektiverweiterung“ zu finden. Was das konkret bedeutet, macht später SPD-Chef Franz Müntefering deutlich: Bürgerversicherung, schnellere Korrekturen an Hartz IV, die Einführung von Mindestlöhnen.

Nur einer will bei der Befriedung der Linken nicht mitmachen: Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement. Im Vorstand singt er das Hohe Lied vom Erfolg der Arbeitsmarktreformen und spricht sich gegen schnelle Korrekturen an Hartz aus. Es kommt daraufhin zu „tumultartigen Szenen“, wie ein Teilnehmer mit unverhohlener Schadenfreude berichtet: „Das wollte keiner hören.“ Die eine Hälfte der Anwesenden habe höhnisch „dazwischengerufen“, die andere sei „peinlich berührt“ gewesen. Fazit eines SPD-Linken: „Der Mann ist in jeglicher Hinsicht Geschichte.“ Ob Gerhard Schröder bei Gelegenheit auch das dementiert?

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