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Politik: Das offene Geheimnis

Von Peter von Becker

Mein Gott, was hätte dieses Urteil vor einigen Jahren noch an Proteststürmen gegen den „gläsernen Menschen“ und die Allmacht eines „Big-Brother“-Staates entfacht! Soeben hat das Bundesverfassungsgericht ohne größeres Murren der Datenschützer entschieden, dass zwar ein laufendes Telefongespräch oder das Verfassen einer E-Mail den Schutz des nur mit richterlicher Genehmigung einschränkbaren Fernmeldegeheimnisses genießen. Nach Beendigung eines Telefonats oder nach dem Versenden einer E-Mail aber sollen die in einem Handy oder Computer gespeicherten Verbindungsdaten für die Strafverfolgungsbehörden künftig auch ohne richterliche Vorprüfung zugänglich sein. Selbst in Verdachtsfällen minderer Kriminalität. Dies sei rechtens, solange bei Durchsuchungen und Beschlagnahmungen „die Verhältnismäßigkeit“ gewahrt bleibe.

Freilich steht jede den Bürger beschwerende staatliche Maßnahme unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit. Die auch von Befürwortern des Urteils begrüßte „Hürde“ der Verfassungsrichter wäre also nur eine Selbstverständlichkeit. Was aber ist heute im Spannungsverhältnis zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit, zwischen bürgerlicher Diskretion und staatlichen oder wirtschaftlichen Interessen überhaupt noch selbstverständlich? Man mag die von Karlsruhe getroffene Unterscheidung zwischen dem Schutz vorm Abhören eines Telefongesprächs und der nachträglichen Preisgabe der Rufnummer und des Gesprächspartners sowie dem Zugriff auf bereits geöffnete E-Mails (wie auf geöffnete Briefe) für einigermaßen spitzfindig halten. Salomonisch ist sie trotzdem. Denn die Verhältnisse – und damit die Verhältnismäßigkeit – haben sich drastisch verändert.

Vor gut 20 Jahren ging noch ein Teil der bundesdeutschen Gesellschaft wegen einer total banalen Volkszählung auf die Barrikaden, als würden die bürgerlichen Grundfesten durch einen Überwachungsstaat zerrüttet. Heute ist der Verfolgungswahn eher einem Versorgungswunsch gewichen. Der Staat möge seine Bürger möglichst umfassend vor den Gefahren durch Globalisierung, Seuchen, Terror und Kriminalität bewahren. Und man weiß, dass der Staat gegenüber Terror und organisiertem Verbrechen ohne kontrollierenden Zugriff auf moderne Kommunikationstechniken machtlos wäre. Wenn es statt der Daten auch das Leben der Bürger zu schützen gilt.

Die wirkliche Konfliktlinie verläuft ohnehin kaum mehr zwischen Staat und Individuum. Sondern innerhalb der Gesellschaft: zwischen Konsument und Kommerz. Bei „Big Brother“ denkt heute fast niemand mehr an Orwell und das Auge eines staatlichen Diktators. Sondern an die Optik privater Medien und die zunehmende Entblößung und Verödung der Intimsphäre. Aktuellstes Beispiel: Eltern verkaufen in Wort und Bild die Persönlichkeitsrechte einer zwölfjährigen Tochter und ihres eben geborenen Kindes. Aber auch auf dem alle gesellschaftlichen Sphären durchrasenden Daten-Highway sind dank Internethandel, digitalen Krediten und Kundenkarten die persönlichen Daten von Millionen Menschen in immer weiterem Umlauf. Wir sind hier gerade noch froh, wenn das Arzt- und das Steuergeheimnis sowie ein Rest Intimleben unsere Privatsache bleiben. Andererseits droht die Datenflut längst am eigenen Überfluss zu ertrinken. Und man ahnt, auch der gläserne Mensch wäre wohl nicht mehr als eine trübe Tasse.

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