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Meinungsforschung: Das Orakel der Demoskopen

Die Meinungsforschungsinstitute treiben derzeit in ihren Wahlumfragen die Regierung vor sich her. Dabei lässt sich von den Zahlen nicht auf den Ausgang der nächsten Wahl schließen. Doch das ist für Union und FDP kein Grund, sich erleichtert zurückzulehnen.

In dieser Woche bestimmt Allensbach die Schlagzeilen. Erstmals seit acht Jahren liegt in einer Umfrage des Instituts für Demoskopie die SPD vor der Union. Wieder einmal eine Hiobsbotschaft für die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende. Es ist nicht zu übersehen, die schwarz-gelbe Bundesregierung steckt im Stimmungstief. Die Wähler sind unzufrieden mit der Arbeit von Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihrem Kabinett. Auch Forsa und Emnid, Infratest-Dimap und die Forschungsgruppe Wahlen sehen dies ähnlich. Jede Woche veröffentlichen die großen Meinungsforschungsinstitute neue Zahlen zur Sonntagsfrage, für Union und FDP sehen diese richtig schlecht aus. So schnell sind Parteien noch nie nach der Übernahme der Bundesregierung abgestürzt. SPD und Grüne hingegen jubeln. Erstmals seit vielen Jahren könnten sie mit einer eigenen Mehrheit rechnen, wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre. Bei Forsa erreichten in dieser Woche die Grünen mit 20 Prozent einen neuen Rekordwert.

Das Problem ist jedoch, dass am kommenden Sonntag überhaupt keine Bundestagwahl stattfindet. Die Wähler wissen dies. Und wenn sie es nicht wissen, weil sie sich für Politik oder für Parteien nicht interessieren, dann verspüren sie erst recht keinerlei Veranlassung, sich darüber Gedanken zu machen, was sie wählen würden. Niemand drängt die Deutschen, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Es gibt keinen Wahlkampf, keine Kandidaten und auch keine Plakate, nirgends. Bis es soweit ist, dauert es noch 36 Monate.

Wenn also die Meinungsforschungsinstitute jede Woche eine repräsentativ ausgewählte Zahl von Deutschen anrufen und fragen, was sie wählen würden, erfahren sie zumindest indirekt so manches über diesen Wähler. In vielen Fällen erfahren die Interviewer nur nicht das, was der Befragte tatsächlich wählen würde.

Viel Zeit haben diese während des Interviews zudem nicht, um über diese Frage nachzudenken. Meist ist die Sonntagsfrage irgendwo versteckt in dem langen Fragebogen, irgendwo zwischen den Fragen zur Gesundheitspolitik, zu Steuersenkungen und zum Krieg in Afghanistan. Wer sich erst kritisch minutenlang zur Regierungspolitik geäußert hat, dem fällt es anschließend nicht so leicht, sich bei der Sonntagsfrage zu einer der Regierungsparteien zu bekennen.

Umfragen sind keine Wahlprognosen

Natürlich wissen die Institute dies, deshalb gewichten sie ihre Ergebnisse. Die Forschungsgruppe Wahlen veröffentlicht sogar zwei Zahlenreihen. Eine gibt die aktuelle Stimmung wieder. Die andere heißt "Projektion", in diese fließen "längerfristige Überzeugungen und auch taktische Überlegungen" der Wähler ein. Zudem betonen die Meinungsforschungsinstitute immer wieder, ihre Umfragen seien keine Wahlprognose, sondern lediglich ein aktuelles Stimmungsbild. Trotzdem ist die Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit, die Medien und die Parteien eine völlig andere. Die Sonntagsfrage konstruiert also eine Realität, die so nicht existiert. Sie sind deshalb auch nicht richtig oder falsch, sondern müssen vor allem richtig gelesen werden.

Zurzeit sagen die Zahlen aus der Sonntagsfrage vor allem etwas über die hohen Erwartungen aus, die die Wähler an Schwarz-Gelb hatten. Nach sieben Jahren rot-grünem Chaos und vier Jahren großkoalitionärer Quälerei sehnten sich im vergangenen Jahr vor allem viele bürgerliche Wähler nach einer Regierung, die effektiv, professionell und geräuschlos agiert. So groß die Hoffnungen waren, so gewaltig ist jetzt die Enttäuschung.

Wobei die Erwartungen in der Sache durchaus unterschiedlich waren. Im Wahlkampf 2009 hatten Union und FDP verschiedene oder gar sich widersprechende Botschaften kommuniziert. Kanzlerin Merkel erweckte zum Beispiel den Eindruck, als würde sie im Wesentlichen so weiter regieren, wie in der großen Koalition, nur ohne SPD. Guido Westerwelle hingegen hatte eine Politikwende versprochen. Anders als CSU und FDP hat sich die CDU etwa in Sachen Steuersenkungsversprechen im Wahlkampf deshalb auch sehr zurückgehalten. Die Unzufriedenen wenden sich derzeit also an beiden Enden des bürgerlichen Wählerspektrums von den Regierungsparteien ab, dies verstärkt den negativen Trend in den Meinungsumfragen zusätzlich.

Bis 2013 kann noch viel passieren

Was dies alles jedoch für die nächste Bundestagswahl bedeutet, das lässt sich längst noch nicht vorhersagen. Vieles kann noch bis zum Herbst 2013 passieren. Die Regierung kann sich fangen, zu einer gemeinsamen Botschaft finden. Die Opposition kann sich zerstreiten, kein überzeugendes Personal präsentieren. Naturkatastrophen oder internationale Krisen können die Stimmung im Lande von einem Tag auf den anderen Tag völlig verändern.

Zugleich jedoch geben die Wähler den Wahlforschern zugleich schon seit Längerem ein gewaltiges Rätsel auf. In den letzten beiden Jahrzehnten sind die Parteienbindungen erodiert. Es gibt in Deutschland mittlerweile mehr Wechselwähler als Stammwähler. Daneben gibt es Protestwähler, die von den etablierten Parteien nichts mehr halten. Es gibt Sanktionswähler, die immer gegen die Regierung votieren, und es gibt potentielle Nichtwähler, die bei Regen oder einem langweiligen Wahlkampf am Wahltag lieber zuhause bleiben. Die latente Unzufriedenheit vieler Wähler mit allen etablierten Parteien ist groß. Auch dies spiegelt sich in den wöchentlichen Zahlen der Demoskopen wider.

Natürlich gibt es daneben auch Wähler mit einer klaren Parteienidentifikation, aber selbst diese denken immer häufiger darüber nach, auch mal eine andere Partei zu wählen. Kurz vor der Bundestagswahl 2009 gaben in einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen lediglich 25 Prozent der Befragten an, sie könnten sich nur vorstellen, eine ganz bestimmte Partei zu wählen, der Rest war mindestens für zwei Parteien offen.

Zahl der Wechselwähler wächst

Der Trend geht zur Zweitpartei und dies nicht nur innerhalb des Lagers. Es gibt mittlerweile viele Wechsler zwischen den Lagern, vor allem zwischen Union und SPD. Bei der Bundestagswahl 2009 haben insgesamt 29 Prozent der Wähler anders gewählt als 2005, 8,4 Prozent der Wähler haben das Lager gewechselt. Betrachtet man das Wahlverhalten über längere Zeiträume, steigt die Zahl der Wechselwähler sogar deutlich über 50 Prozent.

Auch innerhalb der Legislaturperiode sind die Parteienidentifikationen schwankend. Wahlforscher beobachten, dass viele Wähler ihre tatsächliche Parteienpräferenz innerhalb einer Legislaturperiode mehrfach wechseln. Sie entscheiden sich je nach Stimmung oder Thema für die eine oder andere Partei. Der Wählermarkt ist also ziemlich unübersichtlich geworden. Die Zahl der Wähler hingegen, die sich fest an eine Partei gebunden fühlen, umfasst nur noch etwa 20 bis 25 Prozent. Nur noch jeder vierte bis fünfte Wähler geht also mit seiner Partei durch dick und dünn. Mit dem tatsächlichen Wahlverhalten haben die Antworten auf Sonntagsfrage also wenig zu tun, vor allem dann, wenn der Wahltag noch in weiter Ferne liegt.

Die Hoffnung, die sich derzeit SPD und Grüne machen, trügt. Noch ist es für eine Jubelstimmung viel zu früh. Ob die vielen Deutschen, die sich derzeit bei den Meinungsforschern zu beiden Parteien bekennen, dort in drei Jahren tatsächlich ihr Kreuz machen, ist völlig offen. Ob diese Wähler den beiden Parteien tatsächlich zutrauen, das Land zu regieren, muss sich erst noch zeigen. Ernst wird es erst, wenn irgendwann zu Beginn des Jahres 2013 der Wahlkampf anläuft und die Deutschen tatsächlich beginnen, sich mit der Frage zu beschäftigen, was sie wählen würden. Eine Antwort auf diese Frage finden bis zu 40 Prozent der Wähler erst in den letzten Tagen oder Wochen vor der Wahl.

Bis dahin müssen alle Parteien noch ziemlich viele Hausaufgaben machen und irgendwann die Fragen nach Kandidaten, Programm und möglichen Koalitionspartnern beantworten. Vor allem bei der SPD können die wieder verbesserten Umfragewerte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Partei noch nicht auf einen neuen Urnengang vorbereitet ist. Die rund zehn Millionen Wähler, die die SPD in ihren elf Regierungsjahren verprellt hat, werden nie wieder zu überzeugten Anhängern der Sozialdemokratie. Zerfallene Milieus, zerstörte Parteienbindungen lassen sich nicht wiederherstellen, vor allem nicht in wenigen Monaten.

Nur nicht zu früh freuen

Die Grünen, die derzeit ganz besonders von der Unzufriedenheit vieler bürgerlicher Wähler mit ihrer Regierung profitieren, müssen erst noch zeigen, dass sie diese auch am Wahltag mobilisieren können. Jede rot-grün Euphorie ist also verfehlt. Zu frühe Siegesgewissheit ist schon manchem Politiker auf die Füße gefallen, zum Beispiel Edmund Stoiber, dem Kanzlerkandidaten von CDU und CSU aus dem Jahr 2002. Auch Guido Westerwelle weiß davon ein Lied zu singen. Noch sind CDU, CSU und FDP also längst nicht verloren, auch Rot-Grün lag in Umfragen 1999, also ein Jahr nach der Regierungsübernahme, 16 Prozentpunkte hinter den Oppositionsparteien zurück und gewann dennoch die Bundestagwahl 2002.

Trotzdem sind die aktuellen Umfragen für die drei Regierungsparteien ein dramatisches Alarmsignal. Es gibt für Merkel, Seehofer und Westerwelle überhaupt keinen Grund abzuwarten und darauf zu setzen, dass die bürgerlichen Wähler schon zurückkommen, wenn es ernst wird. Im Gegenteil. Es ist viel leichter, schlechte Nachrichten zu produzieren als gute, viel leichter, Wähler zu verlieren als zurückzugewinnen.

Früher, als es noch politische Milieus, stabile Wählerbindungen und feste ideologische Lager gab, da kehrten die meisten unzufriedenen Wähler am Wahltag wieder zu ihrer Partei zurück. Mittlerweile ist dies völlig anders, die Wähler werden immer unberechenbarer. Deren Unzufriedenheit führt sehr viel schneller als früher dazu, dass die Regierungsparteien abgestraft werden, Parteienpräferenzen wechseln häufig.

Aussagekräftig werden die Ergebnisse zur Sonntagsfrage trotzdem erst wieder, wenn die nächste Bundestagswahl näherrückt. Dann beschäftigen sich die Wähler tatsächlich wieder ernsthaft mit der Frage, was würden Sie wählen. Solange sind Wahlumfragen in erster Linie ein Orakel. Am Ende kann es so kommen, wie das Orakel sagt, aber auch ganz anders.

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