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Politik: Das Recht auf die Straße

Von Matthias Schlegel

Sie demonstrieren wieder. Ausgerechnet montags. An jenem Wochentag, der seit der friedlichen Revolution in der DDR dem Marsch hin zur Freiheit vorbehalten schien. An jenem Wochentag, an dem ein selbstherrliches Regime gestürzt und an dem die Wiedervereinigung erzwungen wurde. Jetzt aber, da das alles erreicht ist, geht es auf ostdeutschem Boden montags gegen Dinge, die damals noch gar nicht in der Welt waren, es geht gegen sperrige Begriffe mit römischen Zahlen: Hartz IV, Arbeitslosengeld II, Sozialreformen.

Die Demonstranten stehen im Zwielicht. Sie seien geschichtsvergessen, werfen ihnen manche Aktivisten der vermeintlich einzig wahren Montagsdemonstrationen vor. Sie beleidigten die Zivilcourage derer von damals, sagt ein beleidigter Wirtschaftsminister. Sie ignorierten die Chancen der Reform, kritisieren Reformwillige. Kaum jemand macht sich die Mühe, die Zehntausend in Leipzig, die Zwölftausend in Magdeburg oder die Dreitausend in Aschersleben begreifen zu wollen.

Das Hartz-IV-Gesetz, das alle Arbeitslosenhilfeempfänger über Nacht zu Sozialhilfeempfängern macht, beschert dem Osten Deutschlands wesentlich härtere Zumutungen. Das ist klar, seit es im Ansatz bekannt ist. Doppelt so hohe Arbeitslosigkeit in den ostdeutschen Ländern und ein drei- bis viermal so hoher Anteil an Langzeitarbeitslosen sind Tatsachen, die sich auf die Familienkassen auswirken werden. Über die einschneidenden Kaufkraftverluste werden die Folgen hin zum Handel und zur regionalen Wirtschaft getragen. Das werden auch zusätzliche Zuweisungen an die Ost-Länder nicht ausgleichen können. Von dieser Seite betrachtet, passt Hartz IV nicht auf den Osten.

Viele von denen, die zwischen Rügen und Thüringer Wald den Montagabend wieder auf der Straße verbringen, sind einfach von der Angst getrieben, in einem unsicheren wirtschaftlichen Umfeld notdürftig behauptete materielle Standards aufgeben zu müssen und in den gefürchteten Strudel sozialen Abstiegs und drohender Armut zu geraten. Denn die meisten haben – anders als im Westen – kein über Jahrzehnte angespartes finanzielles Polster. Sie treibt deshalb die Sorge um, nach einem halben Jahr bettelarm dazustehen. Der Blick in die Familie, auf Freundeskreise und Vereinskumpel lässt nicht viel Raum für die Hoffnung, dass sich die Arbeitsmarktsituation bessern wird, wie es die Macher der Reformen versprechen. Und die Bundesregierung selbst tut nichts, um den Leuten aus ihrer Verunsicherung herauszuhelfen.

Die Debatte um ein Gesetz, das in viereinhalb Monaten in Kraft treten soll, hinterlässt den Eindruck von Dilettantismus, Unfertigkeit, Chaos. Nun den Protestierern vorzuwerfen, dass sie sich des Aufmerksamkeitspotenzials von Montagsdemonstrationen bedienen, um ihrem Unmut Luft zu machen, ist töricht. Schließlich haben sie sich einst auf diesen Veranstaltungen das Recht zu demonstrieren erkämpft. Und sie haben dort von der Kraft, die von der Straße ausgeht, erfahren. Wer will ihnen verdenken, dass sie sich dessen erinnern?

Ob Form und Geist der Proteste immer dem Problem angemessen sind – daran allerdings sind Zweifel angebracht. Denn hier brechen bei vielen Demonstranten auch die alten, den Ostdeutschen noch immer in den Hirnen steckenden Sozialutopien von der staatlichen Rundumversorgung auf – ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da dieses Land beginnt, den Sozialstaat vom Kopf auf die Füße zu stellen. Manche Initiatoren der Montagsdemonstrationen tun alles, um mit diesem unterschwelligen Sozialismus-Glauben den Kessel zu befeuern. Die wirklichen Ängste und Anliegen der Demonstranten werden auf diese Weise missbraucht. Die stehen dann da als die Jammer-Ossis, die mit nichts und niemandem zufrieden sind. Und eine Sozialreform, die unumgänglich ist und zum Gelingen die sachliche Debatte braucht, wird wegen ihrer handwerklichen Mängel womöglich von einem verantwortungslosen Populismus zerredet. Dann hätten die Montage wirklich nur noch zur De-Montage getaugt.

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