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Politik: „Das Volk hat gewonnen!“ Der Saubermann

Nach wochenlangen Protesten tritt der Präsident zurück. Nachfolger ist sein Vize - und der verspricht Neuwahlen Mesa wird von allen akzeptiert – ist aber politisch unerfahren

Von Bernd Radowitz,

Rio de Janeiro

Noch in der Nacht zum Samstag wurde er vom Kongress in Bolvien vereidigt: Nun ist der bisherige Vize-Präsident Carlos Mesa neuer Regierungschef. Er wird der Nachfolger von Gonzalo Sanchez de Lozada, der zurücktrat nach wochenlangen Protesten von Studenten, Gewerkschaften und Koka-Bauern. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen kamen bei den Protesten 70 Menschen ums Leben. Zuvor hatte auch Manfred Reyes Villa, der Chef der konservativen Neuen Republikanischen Kraft und einer der wichtigsten Koalitionspartner, seine Zusammenarbeit aufgekündigt. „Tausende von Bauern kommen nach La Paz. Wenn das Ganze nicht aufhört, werden wir hier ein Blutbad haben“, hatte Reyes Villa den Präsidenten zum Rücktritt gedrängt.

Auch am Freitag hatten zehntausende von aufgebrachten Demonstranten in der Hauptstadt La Paz den Rücktritt des Präsidenten gefordert. Die Beschimpfungen „Goni (Spitzname des Ex-Präsidenten), Mörder“ wichen im Lauf der Nacht zum Samstag Jubelrufen. „Das Volk hat gewonnen“ skandierte eine Menge nur wenige Straßen entfernt vom Präsidentenpalast. Sanchez de Losada setzte sich mit Angehörigen und politischen Vertrauten offenbar in die USA ab. Der Oppositionsführer der Indio-Bevölkerungsmehrheit Evo Morales hatte noch zuvor dazu aufgerufen, die Flughäfen des Landes zu blockieren, um eine Flucht des Ex-Präsidenten zu verhindern.

Mesa Mesa könnte gemäß der bolivianischen Verfassung bis 2007 Regierungschef bleiben. Er kündigte jedoch bereits vorgezogene Neuwahlen an. Das hatte auch die Opposition nach dem Rücktritt von Sanchez de Lozada gefordert. Der Journalist betonte, er wolle eine Übergangsregierung von hauptsächlich Parteilosen bilden. „Wir müssen auf eine der größtenHerausforderungen in unserer Geschichte antworten“, sagte der 50-Jährige.

Gleichzeitig übernahm Mesa den Plan seines Vorgängers, ein Referendum über die umstrittene Energiepolitik des Landes abzuhalten. Der Volkszorn gegen Sanchez de Lozada hatte sich an Regierungsplänen entzündet, eine fünf Milliarden Dollar teure Erdgaspipeline zu den Pazifikhäfen des Nachbarlandes Chile zu bauen. Von dort aus sollte das Gas in die USA und nach Mexiko exportiert werden. Der Export nach Nordamerika von Boliviens einzigem Rohstoff, der in großen Mengen vorhanden ist, erschien der Regierung dringlich. Denn Brasilien, Boliviens bisherige Hauptabnehmer von Erdgas, hat im August gigantische Erdgasfelder vor seiner Küste entdeckt und wird zukünftig weniger auf bolivianisches Gas angewiesen sein. Die Exportroute über Chile ist allerdings äußerst unbeliebt. Das Nachbarland ist bei den meisten Bolivianern verhasst, seitdem es dem Andenland in einem Krieg 1879 seinen einzigen Zugang zum Meer abnahm.

Die Opposition dringt darauf, die Belange der bisher in Bolivien praktisch von der Macht ausgeschlossenen Indios stärker zu berücksichtigen. „Der neue Präsident muss mit einem Programm des Volkes regieren, ohne auf die multinationalen Konzerne zu hören“, forderte der Indio-Führer Morales. Morales unterlag bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2002 Sanchez de Lozada nur knapp.

Bei der UN-Vollversammlung im vergangenen Monat warnte Carlos Mesa fast schon prophetisch davor, die Demokratie in seinem Land sei in Gefahr – durch den „legitimen Druck der Armen“. Man könne nicht wirtschaftliches Wachstum und das Wohlergehen von Wenigen erzeugen und dann erwarten, dass die große Mehrheit der Ausgeschlossenen still und geduldig zuschaue, sagte der gelernte Historiker und Journalist. Wie korrekt seine Analyse war, bewies die Geschichte, die den 50-Jährigen nach dem Rücktritt seines unbeliebten Vorgängers in der Nacht zum Samstag zum Präsidenten machte. Denn der Protest, der Gonzalo Sanchez de Losada zum Rücktritt zwang, hatte sich nur vordergründig an den umstrittenen Plänen von Erdgasexporten in die USA über Chile entzündet. Dahinter stand das Elend der Indio-Bevölkerungsmehrheit.

Bei der Mammutaufgabe der Armutsbekämpfung, die auf Mesa zukommt, wird ihm voraussichtlich sein Ruf als politisch Unabhängiger zunächst den Rückhalt in der Bevölkerung sichern. Er gilt als einer der wenigen Politiker in Brasilien, die von links und rechts, von Arm und Reich respektiert werden. Von Präsident Sanchez de Losada hatte sich Mesa nach den blutigen Protesten am vergangenen Wochenende gerade noch rechtzeitig losgesagt. Politisch gilt Mesa allerdings als wenig erfahren. Das Amt des Vizepräsidenten hatte er erst 2002 angetreten. Wie weit der neue Präsident sich politisch durchsetzen kann, ist noch unklar: Schließlich braucht er eine arbeitsfähige Mehrheit im Kongress – und damit gerade jene Parteien, denen er erst kürzlich die Schaffung eines „zur Machterhaltung geschlossenen und korrupten Systems“ vorwarf. Bernd Radowitz/Foto: dpa

Bernd Radowitz[Rio de Janeiro]

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