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Dabei oder außen vor? Am 23. Juni entscheiden die Briten.

© AFP

Debatte über Brexit: Auf die Insel kommt es an

Großbritannien war immer ein prägender Faktor Europas. Abnablung hatte meist ungute Folgen. "Very well alone" bekommt beiden Seiten nicht.

Am 13. Juli 1944 hat T.S. Eliot, der Dichter, an George Orwell einen Brief geschrieben. Eliot, Direktor im Verlag Faber & Faber, lehnte darin das Manuskript von „Animal Farm“ ab. Nicht, weil es schlechte Literatur wäre, sondern weil Orwell – die „Farm der Tiere“ ist eine Satire auf den Staat Stalins – das Sowjetsystem zu schlecht wegkommen lässt. 1944 aber war Kritik an Stalin, dem Alliierten, in Großbritannien nicht genehm. Und so hatte Faber & Faber ein Stück Weltliteratur verloren. Der Brief an Orwell ist gerade von der British Library im Original veröffentlicht worden. Mit der Brexit-Debatte hat das natürlich nichts zu tun. Oder doch? Manche Tiraden der EU-Gegner in Großbritannien klingen schließlich so, als ob die Gemeinschaft der europäischen Staaten eine neue stalinistische Sowjetunion wäre, ein undemokratisches System, welches Britannien unter die Brüsseler Knechtschaft zwingen will. Eigentlich müssten die „Brexiters“ Orwell und „Animal Farm“ in ihre Klagegesänge aufnehmen. Tun sie aber nicht. Orwell war ein Linker, der sich als englischen Patrioten sah, der nichts gegen Europa hatte. So einer passt den vorzugsweise weit rechts stehenden Austrittsbefürwortern natürlich nicht in den Kram. „Toward European Unity“ war der Titel eines kleinen Aufsatzes von 1947, in dem Orwell seine Vorstellung eines demokratisch-sozialistischen Kontinents (inklusive der Insel) umschrieb, als Bollwerk auch gegen das dem Kapitalismus huldigende Amerika, gegen das Russland Stalins und der Partei, und gegen die asiatischen Mächte, denen er ebenfalls misstraute. Klingt gar nicht so unaktuell.

Churchills Satz hat Leitfunktion

1944, als Eliot an Orwell schrieb, war längst Geschichte, was Winston Churchill ein paar Jahre zuvor gesagt hatte: „very well alone“. Es funktionierte nicht. Das Churchill-Zitat steht freilich ungeschrieben über der gesamten Ideologie der „Brexiters“. In diesem Lager zimmert man sich die eigene Geschichte so zurecht, wie man sie gern haben möchte und wie man sie jetzt braucht. Insular eben. Es gibt daher auch Briten, die festen Glaubens behaupten, sie seien gar keine Europäer. Das ist zwar schon wegen der Besiedlungsgeschichte etwas gewagt. Aber es passt auch nicht zu den Jahrhunderten seither. Denn Großbritannien war natürlich stets ein Teil Europas. Wobei jene Haltung, man gehöre irgendwie doch nicht dazu, das eine oder andere Fiasko der europäischen Geschichte erklären hilft. Der Historiker Pavel Seifter, Mitarbeiter von Vaclav Havel und vor Jahren tschechischer Botschafter in London, schrieb im „Guardian“, er frage sich angesichts der Brexit-Debatte, ob sich eigentlich seit 1938 viel geändert habe – eine Anspielung auf das Münchener Abkommen und die damalige Haltung der britischen Regierung, angesichts der dramatischen Entwicklung auf dem Kontinent lieber auf dem Zaun zu sitzen. Was ja Tradition hat. Das Dumme war freilich immer schon, dass man sich zwar von Europa fernreden und ferndenken kann, aber nicht fernhalten. Der bekannte Historiker Niall Ferguson merkte unlängst dazu an, es sei eine Lehre der Geschichte, dass britischer Isolationismus oft einherging mit Zerfall auf dem Kontinent. Ob nun als Reaktion darauf, um sich herauszuhalten, oder als Ursache, weil man der Aufgabe einer starken Nation in der Nachbarschaft nicht nachkommen wollte - darüber kann man im Einzelfall streiten. In der Gesamtschau aber zeigt sich, dass Abnabelung stets ungute Wirkungen hatte.

Nach dem Brexit ein Breakit?

Seifter, ein Unterzeichner der Charta 77, sieht vor allem das Risiko, dass mit einem Austritt Großbritanniens in anderen Staaten die Anti-Europäer und Exit-Befürworter Oberwasser bekommen und letztlich ein "Breakit" daraus werden könnte, eine europäische Bewegung raus aus der EU. Allein dieses Szenario zeigt, wie grotesk die Selbstwahrnehmung ist, Großbritannien gehöre eigentlich nicht zu Europa. Michael Heseltine, einer der wenigen bekannten Pro-Europäer bei den Tories, einst Minister unter Maggie Thatcher, sagt: "Je mehr man sich hineinvertieft, umso furchterregender wird die ganze Sache."
Mehr als 300 Historiker haben gerade, ebenfalls im „Guardian“, die in Britannien zu beobachtende Mischung aus Geschichtsvergessenheit (mit Blick auf Europa) und Geschichtsversessenheit (mit Blick auf die eigene Nation) kritisiert. Ferguson gehört dazu, einige prominente Autoren wie Simon Schama und Antonia Fraser, in Deutschland kennt man Chris Clark, Ian Kershaw, Richard Overy oder Richard Evans. Großbritannien habe in Europa in der Vergangenheit eine unersetzliche Rolle gespielt und werde sie in der Zukunft auch haben, heißt es in dem kurzen Statement. Beim Referendum am 23. Juni gehe es darum, ob sich das Land loslöse, um sich damit selbst zur Bedeutungslosigkeit zu verdammen und Europa zu Teilung und Schwäche, oder ob es den Willen zum Engagement in Europa bekräftige und damit den Zusammenhalt des Kontinents in einer gefährlichen Welt stärke.

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