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Ein Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Chios.

© Alkis Konstantinidis/Reuters

Debatte um Flüchtlinge: Wie können Fluchtursachen bekämpft werden?

Krieg, Armut, Dürre: Die Gründe für die Flucht von Menschen aus dem Nahen Osten und Afrika sind vielfältig. Von einer Entschärfung der weltweiten Flüchtlingskrise kann keine Rede sein. Eine Analyse

Über den richtigen Umgang mit Menschen auf der Flucht wird nicht nur in Deutschland seit einem Jahr intensiv gestritten. Hier kommen mittlerweile weniger Flüchtlinge an als 2015. Dazu haben Abkommen mit der Türkei und Staaten in Nordafrika beigetragen. Dennoch sind sich CDU und CSU in vielen Fragen der Flüchtlingspolitik auch weiterhin uneins. „Je restriktiver die Zuwanderungspolitik ist, desto großzügiger muss die Bekämpfung der Fluchtursachen sein“, betonte CSU-Chef Horst Seehofer – und liegt zumindest damit auf einer Linie mit CDU-Chefin Angela Merkel.

Was tut Deutschland, um Fluchtursachen zu bekämpfen?

Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) gilt neben Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) als der große Gewinner im Bundeshaushalt 2017. Insgesamt 580 Millionen Euro mehr will Deutschland im kommenden Jahr für Entwicklungszusammenarbeit – konkret: für die Bekämpfung von Fluchtursachen – ausgeben. Müllers Etat steigt damit auf ein Rekordniveau von fast acht Milliarden Euro. Die zusätzlichen Mittel würden „zu einem großen Teil“ in den Wiederaufbau von Krisengebieten eingesetzt, heißt es auf der Homepage des Ministeriums. Hilfsorganisationen kritisieren jedoch, dass dies zu kurz greife.

So vermisst die Plattform zivile Konfliktbearbeitung, der 60 Hilfs- und Forschungsorganisationen angehören, eine „nachhaltige, Krisen vorbeugende, den Frieden fördernde Politik“. Die Ausgaben zur Bekämpfung der Folgen des Klimawandels in armen Ländern stiegen nicht, auch Bildungsprogramme würden zu wenig vorangetrieben. Die Deutsche Welthungerhilfe und Terre des hommes halten vor allem die Hilfe für Afrika für unzureichend. Schätzungen zufolge könnten sich von dort in den kommenden Jahren Millionen Menschen in Richtung Norden aufmachen. „In Afrika südlich der Sahara hält sich der Hunger hartnäckig seit mehr als zwanzig Jahren. Dort liegt die Mehrzahl der Länder, die arm und fragil sind“, heißt in einer Erklärung der beiden Organisationen. Dennoch finde sich kein einziges Land aus dieser Region in der Liste der zehn wichtigsten Empfängerländer deutscher Entwicklungshilfe.

Das Ministerium hält dem entgegen, dass es Sonderinitiativen zum Kampf gegen den Hunger in Afrika gestartet habe. Diese seien darauf ausgerichtet, möglichst schnell, aber dennoch nachhaltig Wirkung zu erzielen. Unter anderem sollen zwölf „grüne Innovationszentren“ Kleinbauern beraten und unterstützen, um ihre Anbaumethoden zu verbessern.

Was will Deutschland langfristig tun?

Hilfsorganisationen fordern einen deutlich höheren Anstieg der Entwicklungsausgaben und langfristig angelegte Strukturhilfen in Krisenländern. Die Finanzplanung der Bundesregierung sieht in den kommenden Jahren allerdings keine weiteren Steigerungen des Entwicklungsetats vor – im Gegensatz zum Verteidigungsetat, der bis 2020 um mehr als zehn Milliarden Euro für Rüstungsanschaffungen aufgestockt werden soll. Der Friedensbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Renke Brahms, sieht darin ein Missverhältnis. Die Bundesregierung habe sich in ihrem gerade erschienenen Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr zwar ausdrücklich dazu bekannt, Krisenprävention und Konfliktbewältigung in den Mittelpunkt ihrer Sicherheitspolitik zu rücken. „Der Fokus liegt dabei aber zu sehr auf militärischen Ansätzen“, sagte Brahms vergangene Woche bei einer Stellungnahme der EKD zum Weißbuch. Zivile Projekte seien dagegen unterfinanziert. EKD-Militärbischof Sigurd Rink ergänzte: „Wenn man wirklich die Fluchtursachen angehen will, braucht man einen breiten Ansatz.“

Hat sich die Flüchtlingssituation im Nahen Osten stabilisiert?

Auch wenn derzeit deutlich weniger Flüchtlinge aus Syrien oder dem Irak nach Deutschland kommen: Von einer Entschärfung der Flüchtlingskrise im Nahen Osten kann keine Rede sein. Die Bilder aus dem umkämpften Aleppo zeugen davon und auch Berichte aus den Grenzregionen rund um Syrien und dem Irak. So sind im Niemandsland an der Grenze Jordaniens fast 80000 Syrer gestrandet, die dort in Erdwällen ohne jede Infrastruktur in großer Hitze hausen. Mehr als 100 sollen bereits gestorben sein, berichtete eine syrische Journalistin Anfang August. Insgesamt zählt das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) fast 4,8 Millionen syrische Flüchtlinge in Jordanien, dem Libanon, Ägypten, dem Irak, der Türkei und Nordafrika. Die meisten leben unter einfachsten Bedingungen. Die Versorgungslage in den großen Flüchtlingslagern hat sich im Vergleich zum vergangenen Jahr zwar stabilisiert. Allein Deutschland hat seine Hilfe praktisch vervierfacht.

Doch je länger der Konflikt in Syrien dauert, desto drängender wird der Wunsch bei vielen, die Region zu verlassen. Vor allem Familien mit Kindern wollen nicht langfristig in den Camps bleiben, denn reguläre oder gar gute Schulen gibt es hier praktisch nicht. Das gilt auch für die Türkei, wo nach dem gescheiterten Militärputsch tausende Lehrer entlassen wurden, die verdächtigt werden, mit den Putschisten zu sympathisieren. Spätestens im Winter, wenn sich die Lebensbedingungen in den provisorischen Unterkünften durch Kälte und Niederschläge zusätzlich verschlechtern, könnten viele aufbrechen. Grundsätzlich gilt: Die meisten Länder des Nahen Ostens entwickeln sich schlecht, die Flüchtlinge belasten sie zusätzlich. Die Stabilität der gesamten Region ist gefährdet. In den Palästinensergebieten ist die Lage schon jetzt katastrophal. Weitere Flüchtlingsbewegungen sind daher mehr als wahrscheinlich.

Kann zumindest Afghanistan stabilisiert werden?

Die Bundesregierung hält eisern an ihrem Ziel fest, Flüchtlinge aus Afghanistan dorthin zurückzuschicken. Sie sollen in sicheren Regionen angesiedelt werden. Wer diese Regionen auswählt und wie dort Wohnungen, Schulen und Arbeitsmöglichkeiten für Rückkehrer geschaffen werden sollen, ist bisher allerdings nicht thematisiert worden. Die Lage im Land spitzt sich außerdem immer weiter zu. Die gut gesicherte Hauptstadt Kabul wurde gerade erst wieder durch mehrere Anschläge erschüttert, selbst Nato-Kräfte bewegen sich dort nur noch per Hubschrauber. Im Raum Kundus, wo die Bundeswehr bis zum Herbst 2013 stationiert war, sind die Aufständischen ebenfalls in der Offensive. Auch die Terrormiliz „Islamischer Staat“ hat in Afghanistan Fuß gefasst. Der Wiederaufbau kommt kaum voran, der Friedensprozess mit den Taliban auch nicht.

Hinzu kommt: Die Koalition der ehemaligen Wahlgegner Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah lähmt das Land mehr, als dass sie es regiert. Die massive Entwicklungshilfe – nicht zuletzt aus Deutschland – kann so nur beschränkt Wirkung entfalten. Mit bis zu 430 Millionen Euro jährlich erhält das Land die mit Abstand höchste Entwicklungshilfe aller deutschen Partnerländer. Dabei soll es bleiben. Dennoch werden gerade junge Afghanen und Familien weiter versuchen, nach Europa zu gelangen, wo sie eine bessere Perspektive für sich und ihre Kinder sehen.

Wie ist die Lage in Afrika?

Mehr als die Hälfte der Afrikaner ist jünger als 30 Jahre. Die Arbeitslosigkeit ist dramatisch hoch, gut qualifizierte junge Leute tragen sich in vielen Ländern mit dem Gedanken, anderswo neu anzufangen. In Bewegung gesetzt haben sich aber vor allem Eritreer, die dem zeitlich unbegrenzten Militär- und Zwangsarbeitsdienst des Regimes in Asmara entfliehen wollen. Die EU arbeitet deshalb mit dem lange isolierten Eritrea wieder zusammen. Auch mit dem international geächteten Sudan, dessen Präsident Omar al Baschir vom Internationalen Strafgerichtshof mit einem Haftbefehl gesucht wird, gibt es eine zunehmend engere Zusammenarbeit, um Eritreer daran zu hindern, durch den Sudan Richtung Europa zu kommen.

Vor wenigen Tagen sagte Mohamed Hamdan Daglo, der die schnelle Einsatztruppe des Sudan (RSF) führt – besser bekannt als Dschandschawid-Miliz, die als Täter im Bürgerkrieg in der Krisenregion Darfur in Erscheinung getreten ist – bei einer Pressekonferenz in Khartum, dass der Sudan „die illegale Migration anstelle Europas bekämpft“. Die Internetzeitung „Sudan Tribune“ zitiert ihn mit den Worten: „Niemand hat uns die Opfer gedankt, die wir gebracht haben.“ Nach Angaben der RSF sind sei Juni bei der Grenzsicherung mehr als 800 illegale Migranten festgenommen worden. Die EU investiert 100 Millionen Euro in die Kooperation mit dem Sudan. Brüssel bestreitet aber, dass die geächtete Dschandschawid-Miliz aus diesen Mitteln bezahlt wird.

Was ist vom Flüchtlingsgipfel der Vereinten Nationen zu erwarten?

Für den 19. September haben die Vereinten Nationen zu einem Gipfel geladen, um zu beraten, wie die internationale Gemeinschaft auf die wachsenden weltweiten Flucht- und Migrationsbewegungen reagieren sollte. Im Jahr 2015 mussten nach UN-Angaben 65 Millionen Menschen weltweit zwangsweise ihre Heimat verlassen, die meisten von ihnen sind Binnenvertriebene, also Flüchtlinge im eigenen Land. 24 Millionen Menschen flohen in ein anderes Land, drei Millionen von ihnen beantragten Asyl. Die Zahl der Migranten weltweit ist ebenfalls so hoch wie nie zuvor: Mehr als 244 Millionen Menschen leben heute nicht mehr in dem Land, in dem sie geboren wurden. Auf dem Gipfel wollen sich die Vereinten Nationen zur Achtung der Menschenrechte von Flüchtlingen und Migranten verpflichten, wie aus dem Entwurf der Abschlusserklärung hervorgeht. Konkrete Aufnahme- oder Finanzzusagen enthält das Dokument nicht. Allerdings wollen die UN bis 2018 neue Globale Vereinbarungen sowohl für den Flüchtlingsschutz als auch für Migration allgemein aushandeln.

Einen Tag nach den UN-Gipfel lädt US-Präsident Barack Obama zu einem weiteren Flüchtlingsgipfel, auch Deutschland und andere beim Thema Flüchtlinge besonders engagierte oder betroffene Länder zählen neben den USA zu den Gastgebern. Obama will die Staats- und Regierungschefs zu konkreten Hilfszusagen bewegen. Ziel ist es, die Zahl der weltweit aufgenommenen Flüchtlinge zu verdoppeln und die Finanzhilfen für internationale humanitäre Organisationen um 30 Prozent zu erhöhen. Zugleich soll nach den Plänen der USA die Zahl der Flüchtlingskinder weltweit, die eine Schule besuchen, um eine Million steigen.

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