zum Hauptinhalt

Demokratie: Verfassungen im Vergleich

Das Grundgesetz ist das Fundament der deutschen Demokratie. Andere Staaten haben auch ihre eigenen Verfassungen. Aber was ist an einer Verfassung so besonders? Sind sie alle gleich und wenn nicht, wer hat denn die beste?

Es wird dauernd gewählt. Diese Woche waren die Ukrainer dran, "stolz auf die Demokratie" sein zu dürfen. Die Demokratie, mit einer Verfassung als Kern, gilt vielen als die beste Staatsform. Aber was sind diese Verfassungen eigentlich? In einer Demokratie soll sie Ausdruck des Volkswillens sein. "We the people" leitet die US-Constitution ein, und "das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt" erklärt das Grundgesetz. Mit einem souveränen Volk lehnen Demokratien andere Staatsformen ab, die alle Macht einem Diktator, einem Monarchen oder einem Gott zuschreiben.

Entsprechend werden die Verfassungen hoch geschätzt. Artikel 79 des Grundgesetzes erklärt, dass eine "Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages" und dasselbe im Bundesrat notwendig sind, um das Grundgesetz zu verändern. In Russland bedarf es ebenfalls einer klaren Mehrheit, aber die genauen Regelungen hängen auch von dem zu verändernden Kapitel der Verfassung ab.

So sieht man dieselben Grundlinien, aber mit staatsspezifischen Details. Was Menschenrechte betrifft, findet man häufig Formulierungen, dass man wegen Rasse, Glauben, und Herkunft weder benachteiligt noch bevorzugt werden darf. In Deutschland gehört auch Behinderung dazu, in der Ukraine der Wohnort. Solche kleine Unterschiede muss es geben, denn eine Anpassung an internationale Standards würde dem Sinn einer Volksverfassung widersprechen. Bei der Haltung zu Gott gibt es auch keine Einheitlichkeit. Während Russland und Frankreich explizit säkular sind, weisen die Ukraine und Deutschland auf ihre "Verantwortung vor Gott" hin.

Manches erscheint auf dem ersten Blick skandalös. Artikel 16 der ukrainischen Verfassung verpflichtet den Staat "den Genpool des ukrainischen Volkes" zu bewahren. In Deutschland wäre dieser Satz wegen Konnotationen von Eugenik unmöglich. Er muss jedoch im Zusammenhang mit der Tschernobyl-Katastrophe verstanden werden: Er will keine Eugenik befürworten, sondern vor unnatürlichen Mutationen warnen.

Die Volksgeschichte spielt also eine Rolle in der Verfassungsbildung, auch bei dem Umgang mit dem Militär. Nach Artikel 26 des Grundgesetzes ist es verfassungswidrig, einen Angriffskrieg vorzubereiten. In Russland, wo mit Krieg ganz anders umgegangen wird, steht im 59. Artikel: "Der Schutz des Vaterlandes ist Schuldigkeit und Pflicht des Bürgers". Angriffskriege werden nicht als Bestandteil des russischen Alltags festgelegt, aber die Betonung ist klar. Ebenfalls wichtig ist der ukrainische Artikel 17, der ausländische Militärbasen auf eigenem Territorium verbietet. Eine Klausel erlaubt zwar die russische Flotte auf der Krim, aber die Grundabsichten sind ohnehin deutlich.

Selbstverständlich beschreiben Verfassungen mehr als bloße Absichten. Es wird nämlich vorgeschrieben, wer Oberbefehlshaber ist – in Deutschland der Bundesminister für Verteidigung, in Frankreich der Präsident. Es wird auch bestimmt, ab welchem Alter man Präsident werden darf: Der Deutsche muss 40, der Russe nur 35 sein. In der Ukraine muss er außerdem nach Artikel 103 "die Staatsprache beherrschen", welche Artikel 11 zufolge Ukrainisch ist. Auch in Frankreich steht fest: "Die Sprache der Republik ist Französisch." Le président muss es aber nicht können.

Widersprüche tauchen auf, wenn man bedenkt, dass große Teile der ukrainischen Bevölkerung Russisch als Muttersprache haben. Laut Artikel 24 darf man nicht wegen "linguistischer Eigenschaften" benachteiligt werden. Wer aber kein Ukrainisch kann, wird nicht Präsident. Nach Viktor Juschtschenkos Erfahrung ist es vielleicht kein Nachteil, nicht Präsident zu sein, aber trotzdem – ganz wasserdicht ist es nicht. Die Ukraine ist hier kein Einzelfall. In jeder Verfassung findet man Widersprüche und Wiederholungen. Auch vieles scheint willkürlich. Wieso sollen sich Kinder in Russland um ihre unfähigen Eltern kümmern müssen, in Deutschland aber nicht? Es ist aber gut so. Jede Verfassung darf gepriesen werden, solange keine einen Anspruch auf Absolutismus hat.

Selbst wer Verantwortung vor Gott schwört, behauptet nicht, das Wort Gottes auszusprechen. Die Texte kommen von Menschen, und Menschen vertun sich – sie können allerdings ihre Fehler korrigieren, was bei religiösen Texten schwieriger ist. Die meisten Christen und Muslime deuten ihre heiligen Verse aus heutiger Sicht, aber die Worte dürfen niemals geändert werden. Zum Glück dürfen Verfassungen verbessert werden. In diesem Fall werden sie, obwohl es verfassungswidrig klingt, wegen ihrer Herkunft klar bevorzugt: Sie kommen von der Erde – nicht aus dem Himmel.

Stephen Bench-Capon

Zur Startseite