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Politik: Demokratie vertagt

Die Iraker können sich noch nicht auf ein Grundgesetz einigen. Sie streiten über die Rolle des Islam

Um zu begreifen, wie schwierig es für die in Demokratie ungeübten Iraker werden wird, Kompromisse zu schließen, muss man sich auf eine Bagdader Kreuzung stellen. Von allen Seiten drängen die Autos – bis zum Stillstand. Dann beginnt man zu hupen. Aufs große Ganze übertragen: Wie soll sich das Land bewegen , wenn jeder nur den Meter sieht, den er sich vorschieben kann?

Der „egoistische Meter“ bestimmt auch die Politik. Am Wochenende ist in Bagdad die erste Frist verstrichen, zu der die provisorische irakische Regierung Kompromissfähigkeit hätte unter Beweis stellen können. Eine Übergangsverfassung sollte her: vom 25-köpfigen Regierungsrat verabschiedet und gültig, bis an einem noch unbestimmten Tag ein gewähltes Gremium eine endgültige Verfassung schreibe. Doch obwohl die bunte Schar der Politiker von amerikanischen Gnaden seit November in zig Ausschüssen und Unterausschüssen über die Details des Grundgesetzes berät, wurde sie sich nicht einig. Strittig sind vor allem vier Punkte: das Gewicht des Islam in der Gesetzgebung, der Status des seit 1991 autonomen Kurdengebiets, der Frauenanteil in den politischen Institutionen und die Frage, ob es künftig einen Präsidenten oder mehrere alternierende Präsidenten geben soll.

Der Regierungsrat besteht mehrheitlich aus schiitischen Vertretern, außerdem sind Kurden, Sunniten und Christen vertreten. Über die Frage der Rolle des Islam hatte es vorab bereits Streit gegeben. Gegen den Versuch des Schiitenführers Abdel Asis Hakim, das liberale irakische Familienrecht zugunsten der Scharia zu kippen, gab es Demonstrationen. Als der britische Botschafter vergangene Woche verkündete, die US-geführte Verwaltung werde das neue Familienrecht nicht billigen, brach im Saal frenetischer Jubel aus. Im Regierungsrat verläuft die Trennlinie zwischen jenen, die den Islam zur alleinigen Quelle der Rechtsprechung erheben wollen, und jenen, die einige islamische Gesetze zulassen, ansonsten aber eine weltliche Justiz festschreiben wollen. Deutlich zu weit geht den Konservativen die im Gesetzentwurf vorgesehene Frauenquote in politischen Institutionen von 40 Prozent. Die größte Sprengkraft aber liegt in der Frage des Status der Kurden – sie könnte das Potenzial für einen möglichen Bürgerkrieg bergen. „Watan wahid“, eine Heimat, rufen selbst gebildete Mittelschichtiraker, sobald es um die Frage eines möglichen Föderalismus geht. Und die Kurden sagen: Nie wieder darf Bagdad über Kurdistan herrschen.

An der Kreuzung löst sich das Chaos, wenn ein Fahrer aussteigt und die Führung übernimmt. In der Politik ist eine solche Figur im Irak nicht in Sicht. Für die Übergangsverfassung wird vermutlich US-Verwalter Paul Bremer noch einmal Hilfspolizist spielen.

Susanne Fischer[Bagdad]

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