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Politik: „Den Bürgern wird viel abverlangt“

Andrea Nahles über die Steuerpolitik der Koalition, den neuen SPD-Chef Beck – und ihren Ruf als Störfaktor

Frau Nahles, fühlen Sie sich eigentlich wohl als Störenfrieda der SPD?

Ich sehe mich nicht als Störfaktor und schon gar nicht als Störenfrieda, sondernich nehme meine Aufgabe wahr: Ich vertrete den linken Parteiflügel und nicht seltenauch einen guten Teil der Basis …

… und zwar in einer Weise, die vielen in der SPD ziemlich auf die Nervengeht.

Viele in der SPD sind froh, dass wir so wichtige Fragen wie die Unternehmenssteuerreform oder die Gesundheitsreform nicht ungeprüft passieren lassen. Da muss man genau hinsehen und Position beziehen. Der SPD kann das nur gut tun, weil es mittelfristig die Geschlossenheit erhöht, nämlich dann, wenn aus Reformplänen Gesetze werden.

Und dafür nehmen Sie billigend in Kauf, dass die Wahl von Kurt Beck zumneuen SPD-Vorsitzenden von einem Streit um Steuern überschattet wird.

Kurt Beck ist völlig unumstritten und wird heute auf dem Parteitag ein exzellentes Ergebnis bekommen.

Beck hat sich aber eindeutig hinter Finanzminister Peer Steinbrück gestellt,dessen Pläne zur Reichensteuer und zur Unternehmenssteuer Sie seit Tagen attackieren.

Peer Steinbrück hat keinen Grund zur Klage. Die Koalition wird den Bürgerinnen und Bürgern mit der Kürzung von Pendlerpauschale und Sparerfreibetrag und der Erhöhung der Mehrwertsteuer in den nächsten Monaten viel abverlangen zur Lösung der Probleme im Land. Wir sind solidarisch und stellen das übergeordnete Ziel der Haushaltssanierung nicht zur Disposition. Wir erwarten dann aber auch einen gerechten Beitrag aller.

Was ist so ungerecht an den Vorschlägen zur Unternehmenssteuerreform?

Zunächst: Der Anteil der Lohnsteuer an allen Steuereinnahmen beträgt 35,6 Prozent. Dagegen beläuft sich der Anteil der Gewinn- und Vermögenssteuern, zu denen auch die Körperschaftssteuer und die Gewerbesteuer zählen, um die es bei der Unternehmenssteuerreform geht, nur noch auf 14 Prozent. Vor diesem Hintergrund sind Steuergeschenke für Unternehmen und Spitzenverdiener unangebracht. Die SPD hat sich in den Koalitionsverhandlungen für eine Unternehmenssteuerreform eingesetzt, die eben keine Nettoentlastung der Wirtschaft bringen soll. Es ist in den letzten Tagen der Eindruck entstanden, als habe der Finanzminister diesen Erfolg relativiert. Ich erwarte daher eine Klarstellung.

Die nominalen Unternehmenssteuersätze sind bei uns mit 39 Prozent relativhoch.

Das stimmt, sagt aber nur wenig aus. Die tatsächliche Steuerbelastung kann sich mit jedem anderen Land messen, weil es so viele Steuerschlupflöcher gibt. Wir unterstützen es, die Steuersätze zu senken. Dafür müssen aber Vergünstigungen abgeschafft werden. Ich fürchte, sonst heizen wir den Steuerwettlauf nach unten in Europa von Deutschland aus weiter an.

Steinbrück hält eine mindestens einjährige Anlaufphase mit Nettoentlastungender Unternehmen für unvermeidlich.

Das kann ich in der Anfangsphase nachvollziehen, bestehe aber darauf, dass die Senkung der Steuersätze so schnell wie irgend möglich vollständig von den Unternehmen getragen wird. Es darf nicht passieren, dass am Ende die Bürger die Entlastung von Firmen finanzieren. Auch die Erträge aus der Reichensteuer dürfen dafür nicht verwendet werden. Das sage ich nur für den Fall, dass darüber nachgedacht werden sollte. Alle, auch die mit Spitzenverdiensten und Unternehmensgewinnen, müssen an der Konsolidierung des Haushalts beteiligt werden. Das ist keine rein finanztechnische, sondern eine eminent politische Frage.

Finanziert sich die Reform nicht zum Teil selbst, weil niedrigere Steuernmehr Wachstum und damit mehr Steuereinnahmen bringen?

Tja, wenn da nicht die letzte Unternehmenssteuerreform gewesen wäre, die zu einem massiven Einbruch bei der Körperschaftssteuer geführt hat … Viele in der SPD glauben einfach nicht mehr an die Selbstfinanzierungseffekte, die versprochen werden.

Was schlagen Sie vor?

Bei aller Kritik: Ich vertraue darauf, dass Peer Steinbrück gute Eckpunkte zu einer Unternehmenssteuerreform vor der Sommerpause vorlegen wird. Steuervergünstigungen für Unternehmen gibt es viele. Auch der Umsatzsteuerbetrug muss energisch bekämpft werden. Ein Ärgernis in der Bevölkerung ist auch, dass Unternehmen die Verlagerung von Standorten ins Ausland als Betriebskosten steuerlich absetzen können.

Frau Nahles, wie kann man einem Finanzminister vorwerfen, dass er wegenernstlicher verfassungsrechtlicher Bedenken Ausnahmen bei der Reichensteuer macht?

Wir halten fest: Laut Koalitionsvertrag sollte diesen Bedenken mit einem Übergangsgesetz begegnet werden. Dies hätte ich auch weiterhin für einen gangbaren Weg gehalten. Aber sei’s drum. Wenn die Reichensteuer dem Staat ohne die Einbeziehung der Selbstständigen und Freiberufler nur etwa 250 Millionen statt über eine Milliarde Euro einbringt, müssen wir auf andere Weise dafür sorgen, dass Spitzenverdiener und hohe Vermögen gerecht an der Finanzierung unseres Gemeinwesens beteiligt werden.

Wie denn?

Wir erwarten in den nächsten Jahrzehnten hohe Erbschaften. Die Finanzierung öffentlicher Aufgaben über die stärkere Heranziehung von hohen Erbschaften ist gerecht und bringt stetig aufwachsende Milliardenbeträge. Den internationalen Vergleich müssen wir auch nicht scheuen, weil wir die niedrigsten Erbschaftssteuern unter den Industrieländern haben. Ich erhoffe mir deshalb ein klares Signal von diesem Parteitag: Die im Koalitionsvertrag für den 1. Januar 2007 angekündigte Reform der Erbschaftsteuer muss dazu beitragen, Bildung und Kinderbetreuung auszubauen und zu finanzieren.

Ihre Vorschläge stammen allesamt aus dem klassisch linken Repertoire. Washat die SPD-Linke eigentlich aus dem Reformprozess der vergangenen Wahlperiodegelernt?

Die Verteilungsfragen in unserem Land sind tatsächlich nicht neu. Das machtsie nicht weniger aktuell. Eines haben wir in der SPD alle gelernt: Man muss dieMenschen in den Reformprozessen mitnehmen. Und ja, wir haben auch unser Sozialstaatsverständnishinterfragt. Die heftigen Auseinandersetzungen um Hartz IV haben dazu geführt,dass die gesamte Partei die Grundidee des Forderns und Förderns akzeptiert. Wirhaben weiterhin Probleme, weil das Fördern in der Praxis nicht überall funktioniert,aber es gibt einen neuen Konsens. Das markiert auch eine Grenze zur Linkspartei.

Heißt das, die SPD-Linke versteht unter dem Grundwert Solidarität in derPraxis inzwischen mehr als staatliche Transfers?

Das haben wir schon immer. Aber richtig: Die Grundwerte müssen immer neu ausbuchstabiert werden. Eine solidarische Gesellschaft mit der Bereitschaft, abzugeben, kann auf Dauer nur zusammengehalten werden, wenn den Empfängern aktive Teilnahme an der Gesellschaft abverlangt werden kann. Sie müssen aber auch die Chance dazu haben, etwas leisten und zurückgeben zu können. Daran mangelt es.

Die SPD-Regierungsmitglieder glauben offenbar nicht daran, dass die Linkeden Reformkurs verinnerlicht hat. Sie fürchten nach wie vor, blockiert zu werden.

Es gab nun wahrlich in den letzten Monaten keinen Anlass dazu. Die gesamte Partei ist sich doch bewusst, dass in einer großen Koalition Kompromisse erforderlich sind. Aber die SPD hat nur eine Chance, 2009 gestärkt aus der Koalition hervorzugehen, wenn sie es schafft, sich als linke Volkspartei zu profilieren.

Klingt ziemlich vage.

Bei Arbeitnehmern, Arbeitslosen und Facharbeitern haben wir bei den letzten Landtagswahlen die größten Einbußen gehabt. Etliche aus dieser Zielgruppe fühlen sich uns von uns nicht mehr vertreten. Deshalb sage ich: Wir brauchen dringend eine Analyse der verlorenen Wahlen in den Ländern sowie der Bundestagswahl. Wir kommen um eine Strategiedebatte nicht herum.

War das ein Appell an den neuen SPD- Chef?

Ich wünsche mir von Kurt Beck, dass er eine Strategiedebatte anstößt, weil ich glaube, dass sie notwendig ist. Denn solange wir uns nicht auf eine Strategie verständigt haben, bleiben Partei und Regierung in ihrer eigenen Logik gefangen. So lange besteht auch die Gefahr, dass sich die eigenen Leute durch Irritationen gegenseitig verschleißen. Und so lange werden wir es auch nicht schaffen, aus dem 30-Prozent-Loch herauszukommen.

Kann die SPD mit irgendeiner Strategie Erfolg haben, solange sich an derMassenarbeitslosigkeit nichts ändert?

Die SPD muss sich die Frage, wie das Ziel der Vollbeschäftigung überhaupt erreichbar ist, ehrlich stellen. Im Entwurf zum neuen Grundsatzprogramm findet sich dazu nur ein verquaster Satz. Entweder wir sagen offen, dass Vollbeschäftigung in den nächsten 20 Jahren unwahrscheinlich ist und der Staat deshalb dafür sorgen muss, dass Arbeitslose eine sinnvolle Aufgabe erhalten. Oder wir halten an der Vollbeschäftigung fest, wofür ich plädiere. Dann müssen wir aber glaubwürdig unterfüttern, wie wir das Ziel erreichen wollen. Auch hier sind öffentliche und private Investitionen erforderlich.

Jenseits der Arbeitslosenzahlen wird die große Koalition an der Gesundheitsreformgemessen werden. Ist Kurt Beck der geeignete Garant für eine sozialdemokratischgeprägte Reform?

Ja. Ich wüsste nicht, welchen Garant wir sonst hätten. Ich finde es gut, dass er für die SPD die Verhandlungsführung übernommen hat.

Er hat immerhin die paritätische Finanzierung der Krankenkassenbeiträgezur Disposition gestellt.

Kurt Beck hat längst klargestellt, dass eine einseitige Belastung der Versicherten für die SPD ebenso wenig in Frage kommt wie Kopfpauschalen. Bei der letzten Gesundheitsreform haben die Arbeitnehmer fünf Milliarden Euro getragen, die Pharmaindustrie nur eine Milliarde. Die Belastungen müssen dieses Mal zumindest ausgewogen sein. Es kann nicht sein, dass die Mehrkosten, die bis 2009 auf 20 Milliarden Euro beziffert werden, von den Versicherten aufgebracht werden sollen.

Unions-Fraktionschef Kauder hat einen Gesundheitsfonds angeregt, in demalle Finanzströme für die Krankenkassen zusammenfließen. Sind Sie dafür genausooffen wie Gesundheitsministerin Schmidt?

Was Kauder vorgeschlagen hat, bedeutet eine einseitige Belastung der Arbeitnehmer. Wenn der Beitrag der Arbeitgeber eingefroren wird, müssen die Versicherten in Zukunft alle Kostensteigerungen alleine tragen. Außerdem will Kauder mit dem Fonds die Kopfpauschale durch die Hintertür einführen. Auf der Basis können wir nicht verhandeln.

Vizekanzler Müntefering fordert einen Kompromiss, der 20 Jahre hält. Hatsich die Bürgerversicherung damit erledigt?

Meine Minimalanforderung an die Gesundheitsreform ist, dass wir uns für später die Möglichkeit zur Einführung einer Bürgerversicherung offen halten.

Kann die große Koalition an der Gesundheitsreform scheitern?

Das sehe ich nicht. Es wird sehr schwer, einen Kompromiss zu finden. Da darf man sich keine Illusionen machen. Die Gesundheitsreform hat Mustercharakter für andere große Reformvorhaben. Sie wird prägend dafür sein, wie es in der großen Koalition weitergeht.

Das Gespräch führten Tissy Bruns, Cordula Eubel und Stephan Haselberger.

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