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Der 9. November 2009: Dort sein, wo es geschah

War Berlin gestern Mittelpunkt? Und wenn: wovon? An diesem grauen Tag war das merkwürdig anarchische, überrumpelnde Element dieser Stadt wieder spürbar. Noch immer ist Berlin das Laboratorium der Einheit. Und es bleibt das Gedächtnis: Die 20. Wiederkehr des Mauerfalls war auch der 71. Jahrestag des Novemberpogroms.

Ja, ganz Berlin war eine (Fest-)Wolke. Sechzehn Staatsoberhäupter oder vergleichbarer Provenienz, Journalisten in Bataillonsstärke und Gäste-Heerscharen aus aller Herren Länder, Veranstaltungen im Halb-Stunden-Takt, Andachten, Gedenkspaziergänge, Remmidemmi und die zeitweilige Beförderung von Teilen der Innenstadt zur englischsprachigen Zone. Und dazwischen die Berliner, die versuchten, einen Arbeitstag zu stemmen, sich durch den gestauten Verkehr kämpften und gelegentlich inbrünstig stöhnten: Weshalb ist dieser Tag ausgerechnet für die Berliner kein Feiertag?

Natürlich haben die Bewohner dieser Stadt dieselbe gern ihren Gästen überlassen – eigentlich sind wir ja nett, sagte einmal, abgrundtief, die Berlinerin Monika Maron. Aber ein bisschen verwundert waren sie, ehrlich gesagt, doch: Woher der Ansturm auf dieses – nicht ohne bemühte Routine vorbereitete – Jubiläum? Was suchen die dänische Lehrerin, die amerikanische Software-Expertin und der Diplomat aus dem Kongo an diesem Tage in Berlin? Die zwanzig Jahre zurückliegende Geschichte, deren Spuren wir mühsam konservieren und die doch hierzulande bis zur Kaum-noch-Spürbarkeit überlagert sind von der Mühsal, den Widersprüchen und Frustrationen des Vereinigungsalltags?

Berlin als Reiseziel im trüben Monat November: Das gilt offenbar einer gewaltigen Projektionsfläche, einer mythischen Größe, die weltweit vieles bewegt – den Wunsch nach dem großen Ereignis und die Faszination durch das Geschichtsspektakel, die Sehnsucht nach Enthusiasmus und einen Hauch der Gemeinschaftlichkeit der Gattung Mensch. Und tatsächlich gibt es kaum ein Geschehen von so dramatischer Ereignishaftigkeit wie die Öffnung der Mauer in Berlin: das Zerbrechen der Herrschaft eines lähmenden Systems an ebender Stelle, an der seine Menschenverachtung zur Sichtbarkeit gesteigert war, in einem Akt des Ausbrechens. Hier wird Geschichte sinnfällig, miterlebbar, berührbar – und das auch dann, wenn sie längst nur noch durch die Vermittlung von Didaktik und Event zugänglich ist.

„When the wall came down“: Mit diesen Worten nahm der nigerianische Literaturpreisträger Wole Soyinka den Mauerfall als globales Signal für seine globalen Freiheits- und Friedenshoffnungen in Anspruch (berichtet Richard von Weizsäcker). Das war kurz nach dem Ereignis, und die Dinge sind leider anders gegangen. Die Zahlendreher-Nähe des deutschen 9.11. und des amerikanischen 11.9. hat den Weltläuften den dramatisch-herausfordernden Trauerrand gegeben. Doch das Nachleben, das Nachbeben des Mauerfalls in so vielen Köpfen überall auf der Welt zeigt an, dass das Bedürfnis nach Wandel und Freiheit unterwegs ist.

War Berlin gestern Mittelpunkt? Und wenn: wovon? Mittendrin im Bewusstsein des Wandels der Zeit, unserer Zeit, ihrer Sehnsüchte und Erwartungen war man an diesem grauen Tag in der Kulisse des neuen Berlins jedenfalls. Das merkwürdig anarchische, überrumpelnde Element dieser Stadt, das auch im Mauerfall vor zwanzig Jahren seine gar nicht zu unterschätzende Rolle gespielt hat, war wieder spürbar. Der Alltag wartet, die Mühen der Ebenen, mit denen die Stadt in den vergangenen zwei Jahrzehnten gerungen hat: Noch immer ist Berlin das Laboratorium der Einheit. Und es bleibt das Gedächtnis: Die zwanzigste Wiederkehr des Mauerfalls war auch der einundsiebzigste Jahrestag des Novemberpogroms.

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