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Trauer um die Opfer: Kanzlerin Angela Merkel in der Gedächtniskirche

© dpa/Reuters/Hannibal Hanschke/Pool

Der Anschlag und Merkels Flüchtlingspolitik: Die Kanzlerin trägt Trauer

Ausgerechnet kurz vor dem Anschlag verspricht Angela Merkel vor Helfern: Ich bleibe meiner Flüchtlingspolitik treu. Kann sie das Versprechen halten?

Von Hans Monath

Angela Merkel geht am Tag nach der Katastrophe einen schweren Gang. Ganz in schwarz ist die Bundeskanzlerin gekleidet, auch eine dunkle Halskette trägt sie. Dienstagmorgen im Foyer des Kanzleramtes, Merkel tritt vor die Fernsehkameras und öffnet ihr Manuskript. Sie will, sie muss den Terroranschlag von Berlin kommentieren und dem verunsicherten Land Halt geben.

Die 62-Jährige holt tief Luft – so tief, dass es schon fast wie ein Seufzer klingt. Sie gibt sich einen Ruck, dann kommt der erste Satz: "Meine Damen und Herren, dies ist ein ganz schwerer Tag." Merkel ist eine gewiefte Politikerin, die in 13 Jahren an der Spitze durch viele Krisen gegangen ist. Sie gilt als nervenstark, lässt sich nicht von Emotionen hinwegtragen. Jetzt aber wirkt die Kanzlerin im Herzen getroffen vom Schicksal der Getöteten und Verletzten und ihrer Familien.

Womöglich spürt Merkel auch die politische Erschütterung, die das Attentat unter der Gedächtniskirche auslöst. Die Kanzlerin, die ihre Zukunft mit der Integration Hunderttausender von Flüchtlingen verknüpft hat, muss ahnen, welche Fragen im Moment des Schreckens und der Verunsicherung jetzt auf sie zukommen – mit aller Macht auf sie zukommen. "Wir müssen nach jetzigem Stand von einem terroristischen Anschlag ausgehen", sagt sie. Es klingt bitter.

Den Ernstfall haben in Merkels Regierung alle gefürchtet, auch die Kanzlerin. Es gebe Fortschritte im Kampf gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat", sagte sie vor zwei Wochen in ihrem Video-Podcast. "Das hat im Gegenzug zum Teil die Gefährdungen auch bei uns im Land erhöht, weil die Aggressivität gestiegen ist."

Über ihre Flüchtlingspolitik redet die Kanzlerin nicht in ihrem rund vierminütigem Statement zum Anschlag – jedenfalls nicht konkret. Sie spricht von Trauer, appelliert an die Zuhörer, sich nicht einschüchtern zu lassen von der Gewalttat, verteidigt eine Politik der Offenheit und sagt: "Ich weiß, dass es für uns alle besonders schwer zu ertragen wäre, wenn sich bestätigen würde, dass ein Mensch diese Tat begangen hat, der in Deutschland um Schutz und Asyl gebeten hat. Dies wäre besonders widerwärtig."

Über ihre Flüchtlingspolitik reden dafür an diesem Tag längst andere – vorneweg die Schwesterpartei CSU. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer fordert einen Kurswechsel in der Zuwanderungspolitik. "Wir sind es den Opfern, den Betroffenen und der gesamten Bevölkerung schuldig, dass wir unsere Zuwanderungs- und Sicherheitspolitik überdenken und neu ausrichten", erklärt der CSU-Chef in München – eine politische Kriegserklärung in kalten Worten.

Seit Monaten quält Seehofer die CDU-Chefin mit seiner Forderung nach einer Obergrenze von 200.000 Flüchtlingen. Sie könnte nun noch mehr Durchschlagskraft bekommen. Schließlich gibt es auch in Merkels eigener Partei viele Funktionäre und Mandatsträger, die sich schwertun mit ihrer Flüchtlingspolitik, auch wenn von der ursprünglichen Willkommenskultur nur noch wenig übrig ist. Viele Skeptiker werden sich nun bestätigt fühlen. Dass die AfD schon hämisch-vorwurfsvoll von "Merkels Toten" am Breitscheidplatz spricht, dürfte die Kanzlerin weniger umtreiben als die Aussicht darauf, aus den eigenen Reihen mit der Forderung nach einem Signal der Umkehr konfrontiert zu werden.

Ein islamistischer Terroranschlag mit vielen Toten war Deutschland in den vergangenen Jahren erspart geblieben – die Sicherheitsbehörden arbeiteten sorgfältig, US-Geheimdienste gaben Hinweise, womöglich war auch Glück dabei. Die Todesfahrt vom Breitscheidplatz ist nicht der erste Anschlag eines Islamisten hierzulande. Aber er scheint der am besten vorbereitete Anschlag, trifft einen symbolträchtigen Ort mitten in der Hauptstadt – und fordert entsetzlich viele Opfer.

"Man muss einfach seinen Weg weitergehen", sagt Merkel

Der erste Rückschlag für Merkels Politik der Offenheit und Humanität gegenüber Flüchtlingen liegt fast genau ein Jahr zurück: Die Missbrauchsfälle der Silvesternacht von Köln zerstörten Anfang Januar 2016 manche Illusion über Geflüchtete, die Medien nahmen die problematischen Seiten der Migration in den Blick. Die Ängste der Menschen und Sicherheitsfragen dominierten fortan die politische Debatte. Auch Merkels Regierung nahm die Themen auf, versprach Besserung, Aufmerksamkeit und hartes Durchgreifen. Einer aus ihrem Team äußerte schon damals den düsteren Gedanken: Ein Flüchtling, der sich als IS-Terrorist erweist, "das wäre Köln im Quadrat".

Ein halbes Jahr später war das Horrorszenario zum ersten Mal wahr geworden: Im Sommer sprengte sich ein 27-jähriger Syrer in Ansbach in die Luft und verletzte 15 Menschen. In der Nähe von Würzburg griff ein junger afghanischer Flüchtling in einem Zug mit einer Axt Passagiere an, verletzte fünf Menschen schwer, bevor Elitepolizisten ihn erschossen. Damals ging Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) sofort ins Fernsehen und bemühte sich um Einordnung: Nein, es gebe keine erhöhte Terrorgefahr durch Flüchtlinge; die meisten Attentäter seien in Europa aufgewachsen.

Auch Merkel selbst verteidigte bald nach den Gewalttaten ihre Flüchtlingspolitik gegen Kritik. Durch die Taten von Würzburg und Ansbach sei der islamistische Terror massiv „ins öffentliche Bewusstsein gerückt worden“, sagte sie damals. Dies dürfe man nicht beschönigen, sondern müsse es "in seiner vollen Dramatik auch darstellen". Zugleich versicherte sie damals, ihre Regierung arbeite daran, Vertrauen wieder herzustellen. Manches spricht dafür, dass Merkel auch nach dem bislang schwersten Attentat mit islamistischem Hintergrund um ein Grundsatzerklärung zu ihrer Flüchtlingspolitik nicht herumkommen wird – vermutlich dann, wenn die Zeit des Schocks und der Pietät vorbei ist, so dass auch die Kanzlerin wieder strittige politische Fragen öffentlich verhandeln kann.

Am Abend vor dem Anschlag wurde Merkel für ihre Flüchtlingspolitik gefeiert. Die Regierungschefin hatte gemeinsam mit Staatsministerien Aydan Özoguz zu einer Feierstunde für Integrationshelfer ins Kanzleramt geladen. Sie klatscht zu Gospel-Musik, sprach über Integration und Diskriminierung. "Es gibt immer Menschen, die müssen etwas länger überzeugt werden. Es gibt sogar Menschen, die hören gar nicht hin. Dann muss man dann auch einfach seinen Weg weitergehen. Das gehört zur Meinungsvielfalt dazu", sagt sie.

Die vorwiegend jungen Gäste feierten Merkel, stürmen nach der Rede zum Pult, um ein "Selfie" zu ergattern. Dann gehen die ersten Meldungen vom Anschlag auf den Weihnachtsmarkt ein. Die Kanzlerin weiß: Von nun an ist es schwierig, den Weg weiter zu gehen, ihren Weg.

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