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Politik: Der deutsche Bruder

Von Hermann Rudolph

Von Hermann Rudolph

Der Mann mit der leisen, eindringlichen Stimme, der gestern Morgen in Berlin gestorben ist, war ohne Zweifel eine der großen politischen Gestalten dieser Republik. Das Urteil ist kein Wagnis, denn Johannes Rau hat sich ihrem politischen Leben tief eingeprägt. Er hat es getan durch seine politische Arbeit als Abgeordneter, Minister, Regierungschef, schließlich Bundespräsident, insgesamt bald ein halbes Jahrhundert lang. Er hat gewirkt mit der unverwechselbaren Statur, die er hatte: der verbindliche „Bruder Johannes“, der gleichwohl seine politischen Ziele mit Ausdauer verfolgte, der Christ in der Politik, der die Botschaft des Evangeliums ernst nahm, die gesellige Natur und der in seinen Grundüberzeugungen gefestigte politische Charakter. Und er hat durch seine Auffassung der Politik Maßstäbe gesetzt.

Seit seiner vergeblichen Kandidatur für das Kanzleramt in den achtziger Jahren hing Rau sein damaliges Wahlkampf- Motto „Versöhnen statt spalten“ an und hat ihm oft auch reichlich Spott eingetragen. Das ändert nichts daran, dass er tatsächlich die Anstrengung einer Politik verkörpert hat, die zusammenzuführen sucht, was in der Gesellschaft auseinanderzudriften droht, die Gegengewichte setzt und die Nähe zu den Bürgern anstrebt. Die Nation hat auf ihrem Weg durch die letzten Jahrzehnte wenige so aufmerksame Begleiter gehabt wie ihn. Als „angewandte Liebe zur Welt“ hat Johannes Rau – mit einem Wort der Philosophin Hannah Arendt – die Politik bezeichnet. Das ist ein gefährlich großes Wort. Aber Rau konnte es sagen, ohne sich damit zu blamieren. Im Kern lag der politische Antrieb dieses Mannes, der wohl wirklich fromm war, irgendwo in dieser Ebene menschlichen, eben doch: brüderlichen Denkens und Fühlens.

Der Versöhner Rau hat allerdings auch die Zuspitzung nicht gescheut – wie Wolfgang Huber, der berlin-brandenburgische Bischof, einmal angemerkt hat –, gerade auch als Bundespräsident nicht. Die Beispiele dafür sind noch in Erinnerung. Sein Widerstand gegen die gentechnische Linie des damaligen Bundeskanzlers gehört dazu, gefasst in den schönen Verweis auf die Nutzbarkeit des „Raum(s) diesseits des Rubikon“, aber auch die Heftigkeit, mit der er sich mit den Politikern wegen ihres anstössigen Verhaltens bei der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes anlegte.

Man kann indes der Bedeutung Raus nur gerecht werden, wenn man sich den gewaltigen Bogen verdeutlicht, den dieses politische Leben umfasst. Er überspannt bei dem Frühstarter, der als 21-Jähriger die Gesamtdeutsche Volkspartei Gustav Heinemanns mitgründete, bevor er 1957 zur SPD stieß, fast die ganze Bundesrepublik. Und er hat deshalb Anteil an allen jenen Umgründungen, Neuanläufen und Synthesen, die dieses Staatswesen geformt haben. Zum guten Teil ist Nordrhein-Westfalen dafür das Spielfeld gewesen – das Land, das er, alles in allem genommen, erfolgreich durch zwei turbulente Jahrzehnte geführt hat. Aber Rau hat sich, zum Beispiel, auch unermüdlich um das heikle deutsch-jüdisch-israelische Verhältnis bemüht. Es hatte seine innere Konsequenz, dass es ihm zukam, die erste deutsche Rede in der Knesset zu halten, und es gibt seinem Tod einen Anflug von tieferer Bedeutung, dass er ihn am Gedenktag für den Holocaust ereilt hat.

Das Präsidentenamt, für das er geschaffen war wie wenige, das er, keine falsche Schamhaftigkeit, auch wollte, hat ihn spät, vielleicht zu spät erreicht. Aber es mag dennoch seinen Sinn gehabt haben, dass ein Mann der alten Bundesrepublik an der Spitze des Staates stand, als der große Sprung von Bonn nach Berlin unternommen wurde. Möglicherweise ist es auch sein Verdienst, dass sich kein Riss zwischen der Bonner und der Berliner Republik auftat. Rau selbst hat diesen Übergang auch ganz persönlich gelebt, nicht zuletzt in seinem Verhältnis zu Berlin. Er hat bei der Umzugsdebatte 1991 gegen die Stadt votiert, aber sie dann nicht nur als Alterswohnsitz gewählt, sondern die Hauptstadt – bei der Annahme ihrer Ehrenbürgerschaft – den Deutschen als nationale Aufgabe ans Herz gelegt. Auch das darf Berlin als Raus Vermächtnis annehmen.

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