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Politik: Der gehasste Befreier

Von Malte Lehming

Hilfe erniedrigt. Befreit zu werden, kann demütigend sein. Die Fesseln wurden nicht selbst abgestreift, der Diktator nicht selbst gestürzt. Jahrzehntelang stritten die Deutschen darüber, ob der 8. Mai 1945 wirklich ein Tag der Befreiung war. Umso stolzer waren sie auf die friedliche Revolution, die im Herbst 1989 das SEDRegime zu Fall brachte. Wem geholfen wird, der ist seinen Helfern nicht nur dankbar. Er verachtet sie auch, weil sie ihn seine Hilfsbedürftigkeit haben spüren lassen. Was hat das mit dem Irak zu tun?

Im Kampf um die Herzen der Iraker stehen die Amerikaner auf verlorenem Posten. Eine Kette von Ereignissen hat ihr Engagement diskreditiert. Was mit ungehinderten Plünderungen begann, sich fortsetzte über eine Unzahl von Terroranschlägen, durch regionale Aufstände gegen die Besatzer sich steigerte und durch die Folteraffäre von Abu Ghraib verstärkt wurde, fand nun seinen leider wohl nur vorläufigen Höhepunkt in der Ermordung von Essedin Salim, dem Präsidenten des irakischen Regierungsrates. Nicht einmal ihn konnten sie schützen. Die Mehrheit der Iraker will inzwischen, dass die US-Truppen sofort abziehen.

In den USA gibt es einen ähnlichen Trend. Immer mehr Amerikaner wollen den Einstieg in den Ausstieg. Nur eine Minderheit meint, die Soldaten sollten so lange im Irak bleiben, wie es notwendig ist. Der Wunsch, die Flut der täglichen Horrormeldungen möge bald abebben, erfasst Liberale wie Konservative. Präsident George W. Bush steht kaum minder unter Druck als sein demokratischer Herausforderer John Kerry. Beide widerstehen noch dem Stimmungswandel. Aber beide dämpfen die Erwartungen. Von der „ersten arabischen Demokratie“, die es im Nahen Osten zu errichten gelte, spricht keiner mehr. In den Durchhaltereden dominieren die Vokabeln der Schadensbegrenzung. Das wiederum trägt zur weiteren Delegitimierung des Krieges bei. Was war das Ziel der Invasion? Egal. Lasst uns die Sache rasch beenden.

Aber wie? Die Chancen, dass sich Schiiten, Sunniten und Kurden zu einer friedlichen Nation vereinen, sind gleich null. Es gibt kaum ein Nach-Besatzungs-Szenario, das nicht Bürgerkrieg zur Folge hat. Soll das Land folglich aufgeteilt und sollen Iran und Syrien als neue Ordnungsmächte etabliert werden? Auch das ist keine Lösung. Die Bevölkerungsgruppen im Irak leben, wie auf dem Balkan, nicht streng voneinander getrennt. Wie will man Chaos und Vertreibungen in einer Stadt wie Bagdad verhindern, die von Sunniten und Schiiten bewohnt wird?

Das Drama an der Lage ist, dass sie keine Alternative zulässt. Jede andere Strategie wäre noch waghalsiger. Also: Machtübergabe am 30. Juni, Vorbereitung der Wahlen, stärkere Einbeziehung der UN. Nur die Iraker können über die Zukunft des Irak bestimmen. Sie werden erst dann mehr Verantwortung übernehmen, wenn das Land ihnen gehört. Die Amerikaner müssen dieses Gefühl fördern. Dazu gehört die Einsicht, dass zum neuen irakischen Nationalismus eine Portion Antiamerikanismus gehört. Eine proamerikanische Regierung würde als Marionettenregime verspottet.

Der US-Regierung bleibt keine Wahl: Hartnäckig muss sie die Bedingungen für eine halbwegs legitime Regierung schaffen, die automatisch antiamerikanisch sein wird. Die Befreiten und Erniedrigten verlangen ihre Würde zurück. Das muss die US-Regierung akzeptieren. Soll aus dem Chaos kein Fiasko werden, muss sie sich im Kampf um die Herzen der Iraker geschlagen geben.

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