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Politik: Der Herkules von Kiew

Juschtschenko hat im Volk große Hoffnungen geweckt – jetzt muss er seine Versprechen umsetzen

In seiner Rechten hält Noraddin Jussifow das Foto des Wahlgewinners. In seiner Linken prangt eine Ikone des Drachentöters Georgij, des Siegbringenden. Oppositionschef Viktor Juschtschenko sei für ihn „heilig“, sagt der Kiewer Soziologe. Darum ist er am Mittwoch vor den Amtssitz von Premier Viktor Janukowitsch gezogen. Juschtschenko sei der erste Präsident in der Geschichte der Ukraine, den sich die Nation tatsächlich selbst gewählt habe: „Und wir werden so lange auf der Straße bleiben, bis er vereidigt ist.“

Noch einmal waren am Abend zuvor Zehntausende mit orangefarbenen Flaggen an Angelruten und Besenstielen zum Unabhängigkeitsplatz gezogen, um den Sieger des Wahlmarathons und sich selbst zu feiern. Bevor man sich an Feuerwerk und den Hits der orangen Revolution erfreuen konnte, mahnte der künftige Staatschef zu anhaltender Wachsamkeit. Die Kabinettssitzung der „illegalen Regierung“ dürfe nicht stattfinden, so Juschtschenko. Er forderte seine Zuhörer zur Blockade des Regierungssitzes auf, in dem der unterlegene Janukowitsch für Mittwoch eine Kabinettssitzung angekündigt hatte: Nur eine „ehrenhafte“ Regierung habe das Recht, das Gebäude zu betreten.

Während tausende von Kiewern mit roten Nelken am Mittwochmorgen von dem unter mysteriösen Umständen verstorbenen Verkehrsminister Georgi Kirpa Abschied nahmen, folgten nur einige hundert der demonstrationsmüden Oppositionsanhänger dem Aufruf ihres künftigen Präsidenten. Doch allein die Ankündigung der Blockaden hielten den seit Mitte des Monats beurlaubten Premier von einem Besuch seines Büros ab.

Wahlsieger Juschtschenko plagen derweil ganz andere Sorgen. Viele Wahlversprechen hat der 50-Jährige gemacht, der gerüchtehalber nach seiner Amtseinführung die umstrittene Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko als Regierungschefin vorschlagen will. Die Erwartungen an ihn sind groß. „Um Juschtschenko sitzen viele Leute, die schon einmal an der Futterkrippe der Macht saßen und dorthin unbedingt wieder zurück wollen“, umschreibt ein Diplomat die „keineswegs optimale“ Personalsituation der Opposition. Mit den Oligarchen wird sich Juschtschenko auf eine Zivilisierung des Wirtschaftslebens verständigen müssen. Mit dem skeptischen Kreml hat er sich um eine Verbesserung des abgekühlten Nachbarschaftsverhältnisses zu bemühen. Im Osten muss die Opposition um Vertrauen werben – und zur Haushaltssanierung die hohen Subventionen für die dortige Montanindustrie zurückfahren. Aber nur mit einer schnellen Verbesserung der Lebensverhältnisse der zum Großteil verarmten Bevölkerung wird der Opposition ihre Wählerschaft gewogen bleiben. Die Herkulesaufgabe, vor der die neue Regierung stehe, sei nur bei vollem Bewusstsein der eigenen Verantwortung zu bewältigen, mahnte der ernst und krank wirkende Juschtschenko seine siegestrunkenen Mitstreiter.

Thomas Roser[Kiew]

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