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Politik: Der islamische Klerus reagiert brutal auf die Forderungen nach Freiheit und Reformen

Das Wohnheim bleibt geschlossen. Niemand darf mehr das Haus auf dem Teheraner Universitätsgelände besichtigen, in dem Mitte Juli Schlägertrupps im Dienste radikal-konservativer Kräfte der "Islamischen Republik" ein Blutbad anrichteten.

Das Wohnheim bleibt geschlossen. Niemand darf mehr das Haus auf dem Teheraner Universitätsgelände besichtigen, in dem Mitte Juli Schlägertrupps im Dienste radikal-konservativer Kräfte der "Islamischen Republik" ein Blutbad anrichteten. "Wir glaubten, eine Bombe sei explodiert", erzählt ein Student von den Ereignissen jener Nacht, die nach offiziellen Angaben ein Menschenleben forderten - die Studenten sind überzeugt, dass es mehr Opfer gab. Die Täter und deren Hintermänner wollen das Unheil lieber vergessen. Emsig überstreichen Maler die Blutflecken an den Wänden, passen neue Fensterscheiben ein. Die Höhe der Schäden nach den sechstägigen Unruhen schätzt die Universitätsverwaltung auf 850 Millionen Tuman - umgerechnet rund eine Million Dollar. Alle Spuren von Gewalt sollen von dem Gelände getilgt werden, auf dem jeden Freitag ein führender Geistlicher der "Islamischen Republik" unter dem überlebensgroßen Porträt von Revolutionsführer Chomeini den Studenten seine Mahnungen erteilt.

Noch steckt der Schreck der Ereignisse den Menschen tief in den Knochen, und zitieren lassen will sich hier niemand. "Nicht einmal zu Zeiten des Schahs wagte der Geheimdienst Savak, derart wild auf die Studenten einzuschlagen", sagen viele hinter vorgehaltener Hand. In der Verwaltung atmet man auf, dass das Semester zu Ende ist. "Sonst gäbe es hier täglich neue Demonstrationen", meint ein Verantwortlicher. "Denn die Ursachen der Unruhen sind nicht beseitigt." Die Akademiker an der Universität verlangen die Aufklärung der Attacken auf die Demonstranten, die Bestrafung der Täter, die Absetzung des verantwortlichen Polizeichefs und die Übertragung der Kontrolle aller staatlichen Sicherheitskräfte aus den Händen des "Geistlichen Führers" Chamenei an Präsident Chatami.

Vor dem grünen Zaun, der das Universitätsgebäude einsäumt, steht alle 30 Meter ein Soldat. Wer keinen Studentenausweis hat, wird an den Eingangstoren abgewiesen, wenn er nicht mindestens drei verschiedene Empfehlungsschreiben von staatlichen Behörden sowie von der Universitätsverwaltung vorweisen kann. Die Nervosität überträgt sich auf den Besucher. Die Wände der medizinischen Fakultät sind bepflastert mit Fotos von "Märtyrern", jungen Männern, die vor zwei Jahrzehnten in den wilden Revolutionsjahren für Chomeini ihr Leben ließen, sowie von Soldaten, die im Krieg gegen den Irak fielen: "Wir haben unser Blut gegeben." Die Machthaber hämmern diese Mahnung dem Volk immer wieder ein. Das islamische Establishment gebraucht sie umso häufiger, da es nun fürchten muss, dass der Reformer Chatami ihm die Herrschaft und seine Pfründe entreißt. "Sie glauben, das Land gehöre ihnen", ruft Reza empört aus, "weil sie ihr Blut gaben." Aber an der Verteidigung der Heimat hätten sich Vertreter aller politischen Richtungen beteiligt: "Wir alle haben ein Recht auf dieses Land."

Reza hat starke Verbündete. Denn der Iran gehört der Jugend. Sie macht heute schon mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus, und wird bald die Geschicke lenken. Das ist ihre Stärke und bedeutet politische Gefahr für die theokratischen Autokraten, die sich mit Zähnen und Klauen an die Macht klammern.

Hussein schreckt zurück, als die westliche Besucherin den im Schatten eines Baumes Kauernden nach seiner Meinung fragt. Kontakt mit ausländischen Journalisten ist in diesen Tagen gefährlich. Vielen gefangenen Studenten wird vorgeworfen, sie unterstützten einen vom Westen angezettelten Komplott zur Schwächung der "Islamischen Republik". Auch die Begründung für die erneute Inhaftierung des deutschen Geschäftsmannes Helmut Hofer lautet: "Kontakte mit verdächtigen Ausländern". Schuldzuweisungen an den Westen gehören zur Propaganda.

Hussein überwindet seine Ängste und spricht sich seine Gedanken und Gefühle von der Seele: "Chatami hat uns enttäuscht, als er nicht den Rufen der protestierenden Studenten folgte, um zu ihnen zu sprechen, ihre Nöte zu hören, sie zu beschwichtigen. Doch als er dann energische Aufklärung und Bestrafung der Täter versprach, da schöpften wir wieder Hoffnung." Hussein drängt wie viele andere Akademiker und Intellektuelle auf eine schnelle Aufklärung der Mordserie, der im vergangenen Herbst unabhängige Schriftsteller und Journalisten zum Opfer fielen. Eine von Chatami eingesetzte Untersuchungskommission hatte zwar im Januar Beamte des Geheimdienstministeriums als Täter entlarvt und verhaftet. Der Minister musste zurücktreten. Doch als jüngst bekannt wurde, der Anführer, ein hoher Beamter des Ministeriums, habe im Gefängnis Selbstmord begangen, wurden die Studenten wieder misstrauisch. Sie fürchten, dass starke Kräfte im Regime alles daran setzen, damit die Hintermänner unentdeckt bleiben. "Chatami selbst ist unschuldig, daran besteht kein Zweifel", meint Hussein. "Aber er muss solchen Verbrechen ein Ende setzen." Dass er Erfolg hat, bezweifeln viele.

"Es ist wie ein Boxkampf", fährt Hussein fort. Er sieht die Lage so: Die Konservativen missbrauchen in diesem Kampf die Studenten, Chatamis wichtigste Hausmacht. Sie wollen sie zur Unruhe provozieren, um damit den Präsidenten zu diskreditieren, um vor den Parlamentswahlen im Februar Chaos zu schaffen, das den befürchteten Wahlsieg Chatamis verhindern würde. Das ist auch der Grund, weshalb die Universitätsverwaltung voll Bangen dem Oktober entgegensieht. "Wenn die Kurse wieder beginnen, dann wird es unweigerlich zu neuen Unruhen kommen", meint ein Beamter.

Reza ist zuversichtlich. Viele Studenten, sagt er, wollen Chatami nun weiter ihr Vertrauen schenken. "Wir haben doch keine andere Wahl. Wir haben keinen Führer und kein alternatives Konzept zur Herrschaft des Landes." Chatamis Weg sei - vorerst - in den Augen der akademischen Jugend der einzig Gangbare. Aber das könne sich ändern: "Noch sind wir bereit, unsere Ungeduld zu unterdrücken. Aber er muss endlich energischer durchgreifen."

Viele Studenten wollten Reformen, die weiter reichen als jene, die ihnen Chatami verspricht, meint Hussein. Der angehende Ingenieur hat sich keiner Studentenorganisation angeschlossen. Auch dem "Bund der islamischen Studentenvereine", der den Campus dominiert, will er nicht beitreten. Obwohl die links-islamische Organisation Chatami unterstützt, kann er ihren Zielen nicht zustimmen. Zu Zeiten Chomeinis habe sie fanatisch nicht-revolutionäre Studenten bekämpft. Heute redeten die einstigen Radikalen viel von Demokratie. Dabei, meint Hussein, würden sie sich vorbehaltlos zu Chomeinis islamischem System bekennen.

"Sie behaupten, sie hätten 70 Prozent der Studenten hinter sich", fährt Hussein fort. Tatsächlich arbeiteten viele nur mit ihnen zusammen, weil es keine Alternative gebe. Eine eigene Studentenorganisation kann Hussein nicht gründen. "Wir müssten uns schriftlich zu allen Grundsätzen der Verfassung bekennen. Und das kann ich nicht." Hussein meint damit das System des "Vali-e Faqih", des "Geistlichen Führers", als der gegenwärtig Chamenei über der Verfassung steht und den Weg des Iran zu einer demokratischen Gesellschaft blockiert.

"Es herrscht an den Universitäten eine starke Stimmung gegen Chamenei", bestätigt auch Reza. Doch nur im engsten Vertrautenkreis wagt man, ein solches Sakrileg auszusprechen. Der Angriff auf Chamenei bleibt Tabu, dessen Verletzung die schlimmsten Strafen provozieren kann. "Ich wagte es immer nur, meine Ansichten höchstens im kleinsten Kreis auszusprechen", sagt Hassan. "Das ist heute ebenso wie vor zwei Jahren.". Die Freiheit, die Hassan erstrebt - sie bleibt vorerst Illusion. Der junge Mann ist Realist. Und viele seiner Kommilitonen sind es auch - noch. "Wir müssen Acht geben, dass wir nicht zu viel wollen", sagt Ali, ein Sprachstudent. "Chatami bleibt unsere einzige Hoffnung. Um seine Reformen voranzutreiben, braucht er eine ruhige Atmosphäre." Deshalb sind die meisten Studenten zunächst bereit, ihre Wünsche friedlich und gewaltlos zu äußern.

Vor den vereinten Porträts der Führer Chomeini, Chamenei und Chatami erläutert Akbar Atri, bärtiger Sprecher der islamischen Studentenvereinigung, warum seine Gruppe Chatamis Strategie des Dialoges folgen will. "Wir wollen alles im Rahmen des Gesetzes tun, so wie es Chatami predigt", sagt Atri. Aber, fügt er in drohendem Unterton hinzu, "wenn der Gegner die Regeln nicht akzeptiert, dann können wir für nichts garantieren, dann kann alles geschehen."

Auch viele andere, die Gewalt bisher abgelehnt haben, fühlen die Grenzen der Toleranz nahen. "Das Streben nach Freiheit lässt sich nicht auf Dauer durch Gewalt unterdrücken, das lehrt die Geschichte", sagt ein Gesprächspartner aus der Universität. "Die Reformen werden ihren Weg finden. Das ist ein Naturgesetz."

Birgit Cerha

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