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Politik: Der Kanzler auf Reise: Vom Osten kann man auch lernen (Leitartikel)

Vierzehn Tage bei den Menschen im deutschen Osten. Bei seiner Reise von Bad Elster bis Cottbus will Bundeskanzler Gerhard Schröder Hände schütteln und Punkte sammeln.

Vierzehn Tage bei den Menschen im deutschen Osten. Bei seiner Reise von Bad Elster bis Cottbus will Bundeskanzler Gerhard Schröder Hände schütteln und Punkte sammeln. Das ist gut. Aber es reicht nicht. Wenn er will, kann der Kanzler vom Osten lernen: dass eine Steuerreform alleine noch keinen wirtschaftlichen Aufbruch bringt, dass jetzt dringend die Sozial- und Arbeitsmarktsysteme aus ihren Verkrustungen zu befreien sind. Und: dass solche Veränderungen zumutbar sind - sogar dem Westen.

Zehn Jahre nach der deutschen Vereinigung sind die neuen Länder alles andere als eine Einheit. Die Chiffre Ost täuscht. Es gibt Sieger und Verlierer, Modernes und Veraltetes. Die Struktur der Telekommunikation ist die modernste der Welt, aber florierendes verarbeitendes Gewerbe findet sich kaum. Es gibt den Generationsbruch: Um den Jahrgang 1972 herum scheint die Schwelle zu liegen. Wer später geboren wurde, hatte keine Mühe, sich mit der Dynamik des Kapitalismus anzufreunden. Die heute Dreißigjährigen hat der Ehrgeiz gepackt, erfolgreicher zu sein als die Westdeutschen. Stephan Schambach, Chef der Intershop AG mit Sitz in Jena und San Francisco, ist nur ein besonders prominentes, aber längst nicht das einzige Beispiel. Viele, die früher geboren wurden, hatten dagegen immer schon unter der Überlegenheit des Westens gelitten; das hat sich nach 1990 nicht geändert.

Doch insgesamt bleibt Deutschland wirtschaftlich geteilt. Waren die Wachstumsraten im Osten bis 1994 teilweise zweistellig, hinkt das Tempo seit 1997 dem westdeutschen hinterher. Das ist ungewöhnlich für ein Transformationsland: Polen, Tschechien und Ungarn sind aus eigener Kraft erfolgreicher, Ostdeutschland ist dies nur kraft stetiger Transfers aus dem Westen. Nimmt man für einen Augenblick an, Ostdeutschland wäre ein selbstständiges Land mit einer eigenen volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, ergäbe sich ein Defizit der Leistungsbilanz von jährlich 200 Milliarden Mark. Das ist ungefähr die Höhe der Transfers; fast die Hälfte davon sind Sozialleistungen.

Die Gründe für die Misere sind kaum strittig. Die Menschen im Osten sind für die Fehlleistungen nicht verantwortich zu machen. Die deutsche Einheit war politisch richtig, aber ökonomisch falsch. Der Aufbruch Ost wurde behindert durch den Reformstau West: Die Vereiniger von 1990 wollten den Osten partout mit einem kompletten Modell des deutschen Wohlfahrtsstaates beglücken. Sie verschwiegen die Krise des Modells, die damals schon sichtbar war. Um so klarer heißt jetzt die Botschaft: Vom Osten lernen heißt den Westen reformieren. Nur so lässt sich verhindern, dass Deutschland dauerhaft sein Mezziogiorno im Osten behält.

Jetzt schon ist der Osten Vorreiter vieler Veränderungen, die auch dem Westen gut täten: Die Debatte über eine Freigabe des Ladenschlusses wurde im Osten losgetreten. Daraus wird der Gesetzgeber bald Konsequenzen für ganz Deutschland ziehen. Unternehmerischer Aufbruch - die Kultur der Start-Ups - kommt aus dem Osten: ohne Betriebsverfassung, aber mit Aktienoptionen für die Mitarbeiter. Die Erosion des starren Flächentarifs hat sich ebenfalls in den neuen Ländern vorbereitet. Andernfalls wäre die Arbeitslosigkeit noch dramatischer. Daraus folgt: Die Privilegierung der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände bei der Lohnfindung ist nicht mehr zeitgemäß. Eine Reform des Arbeitsmarktes steht ohnehin an erster Stelle der gesamtdeutschen Reformagenda. Wenn in einigen Regionen Süddeutschlands heute Vollbeschäftigung herrscht, während in Teilen Ostdeutschland bis zu 30 Prozent der Menschen Arbeit suchen, müsste Mobilität gefördert werden. Die herkömmliche Arbeitsmarktpolitik - mit all ihren ABM- und Weiterbildungsmaßnahmen - verhindert das.

Auf Dauer müssen staatliche Förderprogramme in Ost und West reduziert, Marktprozesse intensiviert werden. Das könnte der Inhalt eines neuen Solidarpaktes sein. Denn nur so werden die Länder des Ostens auf längere Sicht eine Chance haben, im föderalen Wettbewerb aufzuholen und die Demütigung immerwährender westlicher Bevormundung abzustreifen.

Rainer Hank

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