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Politik: Der lange Schatten der Ringe

Sie leben in den Dünen und warten auf ihre Chance: Illegale Flüchtlinge, die vom französischen Hafen Calais aus nach England wollen. Vor Olympia ist ihre Lage schlechter denn je. Weil sie das schöne Bild stören.

Diese Lichter. Jedes Mal, wenn Abdullah nachts aus dem Zelt schaut, scheinen sie über das Meer herüber zu ihm. Durch tausende Kilometer Staub und Strapazen hat ihn der Gedanke daran getragen, dazu über eine gute Handvoll Grenzen, und jetzt sind sie so nah. Manchmal denkt Abdullah, es seien die Lichter von London.

Sein Zelt steht, zusammen mit zwei anderen, geschützt vor Wind und Blicken in den Dünen, die sich bis an das Hafengelände von Calais heranstrecken. Die Lichter am anderen Ufer, die Abdullah funkeln sieht, sind nur die Lichter von Dover, vielleicht auch von Folkestone, wenn die Sicht klar ist.

Seit drei Wochen wartet Abdullah, ein Afghane von 20 Jahren, nun auf seine Chance. Als blinder Passagier auf einen Lastwagen kommen, dann per Fähre die Meerenge überqueren, die nirgendwo schmaler ist als hier, lächerliche 30 Kilometer, und dann in Großbritannien sein, wo endlich seine Zukunft beginnen kann. Abdullah will nach London. London ist ein Codewort, ein Synonym für die Sehnsucht, die ihn antreibt.

Aber London ist auch der Grund dafür, dass das letzte Stück des langen Weges so zäh ist. Das liegt an den Olympischen Spielen, die am kommenden Freitag eröffnet werden, zu denen Millionen Besucher erwartet werden. Besucher, die auch über Calais anreisen, von wo stündliche Fähren nach England übersetzen, weshalb die Stadt, die sich einiges an Umsatz ausrechnet, sich schön macht. Es wurde ein Kulturprogramm ersonnen, das die Olympia-Besucher zu einer Zwischenübernachtung in Calais verlocken soll. Menschen wie Abdullah, sogenannte Transitflüchtlinge, die sich ohne ordentliche Papiere in den Dünen herumtreiben, stören da. Und man tut viel, um sie loszuwerden.

Tag und Nacht patrouillieren die Compagnies Républicaines de Sécurité, eine Art Bereitschaftspolizei. Überall in der Stadt sieht man ihre weißen Busse. Im Morgengrauen tauchen sie in den Verstecken der Migranten auf, in verlassenen Häusern oder in provisorischen Camps wie dem von Abdullah. Sie zerstören die Unterkünfte und beschlagnahmen Decken. Sie kontrollieren die vorhandenen Papiere und nehmen die Bewohner fest. Das Abschiebegefängnis im nahen Coquelles ist voll.

Wer wegen unklarer Herkunft oder fehlender Dokumente nicht abgeschoben werden kann, dem wird der Aufenthalt in der Stadt so schwer wie möglich gemacht. Menschenrechtsaktivisten berichten immer wieder von Gewalttätigkeiten gegen die Migranten. Auch die Beobachter selber wurden schon Opfer von Misshandlungen oder willkürlich inhaftiert. Für die Zunahme der Übergriffe in den vergangenen Monaten haben sie ein drastisches Wort: olympische Säuberung.

„Inspire A Generation“, so lautet das Motto der Olympischen Spiele. Doch für die jungen Transitmigranten am Kanal, die meist im gleichen Alter sind wie die Sportler, dürfte es ein Sommer der enttäuschten Hoffnungen werden. Das zumindest versprechen die jüngsten diplomatischen Aktivitäten in Calais. Der neue britische Botschafter kam aus Paris, um die Sicherheitslage während Olympia zu besprechen. Manuel Valls, der neue französische Innenminister, traf unmittelbar nach Amtsantritt mit den lokalen Autoritäten zusammen, um sich über die Grenzkontrollen zu informieren.

Der Hafen von Calais spielt im olympischen Sicherheitskonzept eine Schlüsselrolle. Und die Stadt schwärmt von den Spielen. Nicht nur wegen der Touristen, die nach Calais kommen, auch die Athleten stehen im Fokus. 43 Teams aus aller Welt trainieren in der nordfranzösischen Küstenregion. Die massiven Investitionen in die Sportinfrastruktur zahlen sich aus. „Calais empfängt die Welt“, heißt es freundlich in einer Broschüre. Aber eben nicht die ganze.

Eine Hecke im Niemandsland, dort, wo die Stadt in den Hafen übergeht. Ein paar Lagerhäuser stehen hier, Kräne strecken ihre Arme in den Himmel, durch das wuchernde Gras laufen verlassene Gleise. Die Hecke ist das Basislager einer Gruppe tadschikischer Afghanen. Tagsüber verstecken sie ihre Decken und Schlafsäcke in dem Gestrüpp, abends sitzen sie davor. Reden oder schweigen, bis jemand „Chelsea Match“ sagt. Das ist die Parole, das Zeichen zum Aufbruch. Weil zunächst über den Zaun muss, wer ein Spiel des Londoner Fußballteams angucken will. Als es an diesem Abend „Chelsea Match“ heißt, setzen sich drei der jungen Männer in Bewegung.

Fünf Meter ist das Gitter hoch, das den Hafen umgibt, in glänzendem Weiß ist es gestrichen. Ein Auto nähert sich. Die drei warten, bis sie sicher sind, dass es keine Polizisten sind. Zwei Schritte, dann hängen sie am Zaun, und in schnellen, gekonnten Schwüngen klettern sie an ihm hoch. Kaum zehn Sekunden dauert es, bis der erste von ihnen die Krone erreicht hat, dann der zweite. Da donnert auf der Straße ein Lastwagen vorbei. Sein Scheinwerferlicht streift auch die Gestalten hoch oben im Gitter noch, der Fahrer drückt auf die Hupe, dann sind die Afghanen auch schon auf der anderen Zaunseite unten angekommen und huschen zu den dort wartenden Trucks.

Das Ziel sind die Hinterachsen, deren mittlere beim Fahren genug Raum für einen blinden Passagier in geduckter Haltung lässt. Wer die Karosserie nicht im Griff behält, und das womöglich stundenlang bis zum nächsten Stopp, bezahlt diese Transportart schnell mit dem Leben. Aber darüber müssen sich die drei Afghanen heute keine Gedanken mehr machen. Sie sind nicht mal bis zu den Lastwagen gekommen. Sicherheitskräfte haben sie gestellt. Eine Minute später sind sie festgenommen. Vielleicht müssen sie die Nacht in Gewahrsam verbringen. Wenn sie Glück haben, lässt man sie wieder laufen.

Einfach war die klandestine Überfahrt nie. Auf einen geglückten Versuch kamen schon früher meist zig gescheiterte. In den Fokus der Weltöffentlichkeit geriet Calais, als die Polizei 2009 das größte der „Jungles“ genannten Elendscamps zerstörte, in dem mehr als 1000 Flüchtlinge lebten. Der damalige Immigrationsminister Éric Besson kündigte an, die Transitmigration in Calais zu beenden. Inzwischen sind gerade noch 150 von ihnen in der Stadt. Ihre Reisen begannen einst in Afghanistan, Irak, dem Horn von Afrika oder Darfur. Kurz vor dem Ziel wird der Kanal zum Nadelöhr.

Immer wieder huscht das Blaulicht am Zaun entlang. Die Streifenfrequenz ist enorm in Calais, doch um die zurückgebliebenen Afghanen vor ihrer Hecke kümmern sie sich heute nicht. Ein junger Mann in Lederjacke, der sich Mosafer nennt – „das bedeutet Passagier“ – erzählt, dass er das alles schon einmal erlebte. 2009 war er dabei, als der große „Jungle“ geräumt wurde. Fast die Hälfte der Bewohner war minderjährig. Mosafer war zwar schon 19, doch wegen seines jungen Aussehens brachte man ihn wie die anderen Jugendlichen zwei Monate in einem Asylbewerberheim unter.

Danach kam Mosafer zurück an die Küste. Er schaffte es nach England, doch nach drei Jahren schob man ihn ab. Zurück in Afghanistan, machte er sich umgehend wieder auf den Weg. In Internetcafés studierte er auf Karten den Verlauf der Grenzen. Nach acht Monaten war er wieder in Calais. Mosafer sagt: „Wir kommen den ganzen Weg hierher, durch Iran, Türkei, Griechenland, Italien bis nach Frankreich. Wir leben im Jungle, machen all das durch, und wenn sie dich abschieben, ist das alles innerhalb von 24 Stunden vorbei.“ Wieder wird es still vor der Hecke. Mosafer raucht langsam seine Zigaretten zu Ende und schaut schweigend in die Nacht.

Seit die „Jungles“ in den Küstenwäldchen systematisch geräumt wurden, verlagerte sich das Flüchtlingsleben auf verlassene Gebäude. Fünf davon ließen die Behörden im vergangenen Jahr abreißen. „Palestine Squat“ war nach einer ganzen Serie von Razzien im Mai das letzte.

Das Haus ist jetzt eine Ruine, seine Reste stehen am Rand des Zentrums, an der Kreuzung zweier unscheinbarer Seitenstraßen. Die geduckten Häuschen ringsum lassen die zweigeschossige Fassade mit gähnend leeren Fensterlöchern umso brutaler wirken. In der Geröllwüste dahinter steht eine einsame Planierraupe. Dort, wo einmal das obere Stockwerk war, hat jemand „I love you England“ in riesigen Lettern an die Wand gesprüht. „Palestine Squat“ war einer der zentralen Punkte in der transitmigrantischen Geografie dieser Stadt. Die früheren Bewohner schlafen nun meistens auf den Straßen von Calais, wo auch immer sich eine Möglichkeit ergibt. Ein Vordach ist unter diesen Umständen schon viel.

„Willkommen in unserem Hotel“, sagt Nadil und lacht freudlos auf. Er ist ein junger Bauer aus dem kurdischen Nordirak, er hat ein feines, schmales Gesicht und trägt Jogginghosen. „Und direkt gegenüber ist Restaurant Salam“, sagt er, „heute gab es Makkaroni.“ Er deutet auf den Hof, in dem die nordfranzösische Hilfsorganisation Salam dreimal täglich Essen an die Migranten austeilt. Das „Hotel“ ist die Rückseite eines alten Zollgebäudes, mit vergitterten Fenstern und heruntergelassenen Rollläden. So sehen im Hafengebiet viele Häuser aus. Ein schmaler Vorsprung zieht sich um das Gebäude, der seit ein paar Nächten etwa zehn Männern Unterschlupf bietet.

Die vergangene Nacht war wieder kurz, nicht nur wegen der vergeblichen Versuche, auf einen Lastwagen zu gelangen. Im Morgengrauen sorgte die Polizei für ein unsanftes Erwachen. „Manchmal treten sie mich“, erzählt Nadil, „oder sie nehmen mir meinen Schlafsack weg.“ Den meisten Migranten ist ihre Odyssee im Gesicht abzulesen. Nadils Falten sind besonders tief.

Der Mythos England ist es, der sie weitermachen lässt. Nadil hat Freunde auf der anderen Seite des Kanals. „Everybody here likes England“, sagt er. Warum? Er lächelt noch immer, doch weiter als „because“ kommt er nicht. Dass die Jobs dort nicht auf Bäumen wachsen, hat Nadil inzwischen auch gehört.

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