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Politik: Der lange Weg in die Normalität

Die Aufräumarbeiten auf „Ground Zero“ sind abgeschlossen. New York versucht, seinen Alltag wiederzufinden und mit dem Unfassbaren fertig zu werden

Von Barbara-Maria Vahl,

New York

Das Unerwartete ist Wirklichkeit geworden. Noch vor dem Jahrestag der Katastrophe konnten die Aufräumarbeiten auf „Ground Zero“ abgeschlossen werden. 1,7 Millionen Tonnen Schutt wurden fortgeschafft und kubikzentimeterweise durchsiebt. Die Müllkippe auf den „Fresh Kills“, zu der all der Schutt und die Bröselmasse vom World Trade Center gebracht worden waren, liegt seit Anfang August wieder so flach und still da, wie vor dem 11. September letzten Jahres. Etwa 18 000 Tonnen Material kamen täglich per Schiff und LKW von Manhattan hier an; 10 000 Fundstücke wurden herausgefiltert: 1400 Körperteile, Hunderte Schmuckstücke, Tausende Ausweise und Kreditkarten.

Von den 2819 vermissten Menschen konnten auch mit Hilfe dieser Dinge 1234 identifiziert werden. Die weitaus größte Zahl der Opfer, so viel weiß man heute, war zwischen 30 und 42 Jahre alt, ein Fünftel kam aus dem Ausland, aus insgesamt 115 Ländern weltweit. Sechs Opfer waren jünger als vier Jahre, vier älter als achtzig Jahre alt. 750 Millionen Dollar haben die Aufräumarbeiten gekostet, 24 Millionen wurden bisher für die Identifizierung der Opfer aufgewendet. Das alles geschah ohne großes Aufsehen und ohne Auseinandersetzungen.

Gestritten wird über ein anderes Thema: die Entschädigung der Opfer. Außer den Angehörigen der Toten zählen dazu all jene, die durch den 11. September wirtschaftliche Schäden erlitten haben – Geschäftsleute aus dem Umkreis des World Trade Center, Menschen, die ihre Arbeit verloren. Der Staat hatte ihnen schnelle und unbürokratische Hilfe zugesagt. Doch Washington zahlte erst mit großer Verzögerung und weit weniger als erwartet. Mit 306 Millionen Dollar soll nun die Wirtschaft im angeschlagenen Süd-Manhattan gefördert werden, 350 Millionen werden für die Errichtung eines vorläufigen Mahnmals zur Verfügung gestellt.

Erst im Frühsommer begannen auch die beiden größten, milliardenschweren, Opferfonds mit ihren Auszahlungen. Die staatliche Katastrophenhilfe wies zunächst sogar gut siebentausend Menschen ab, die auf Schadensersatz geklagt hatten. Nach einem Gerichtsurteil muss sie die Fälle nun neu bearbeiten. Ohne professionelle Hilfe sind die bürokratischen Hürden bei der Antragstellung ohnehin kaum zu bewältigen. Deshalb haben bisher nur 30 von etwa 3200 potenziellen Anspruchsberechtigten überhaupt einen Antrag eingereicht.

Hilfe für Traumatisierte

Eine andere wichtige Frage konnte wenige Wochen vor dem Jahrestag geklärt werden: Jeder, der nach den traumatischen Erfahrungen am 11. September psychotherapeutische Hilfe braucht, soll sie auch in Anspruch nehmen können. Das Rote Kreuz und der 11.-September-Fonds, die gemeinsam etwa 100 Millionen Dollar dafür bereitstellen, schätzen, dass 150 000 Menschen diese Hilfe nötig haben.

Die, die am 11. September am stärksten gefordert waren, die Beamten von Feuerwehr und Polizei, müssen sich nicht nur mit ihren Erlebnissen, sondern auch mit eigenen Fehlern auseinander setzen. Wirtschaftsberater von McKinsey haben in den vergangenen fünf Monaten die Einsatzstrukturen bei Polizei und Feuerwehr untersucht. Das Ergebnis der im August veröffentlichten Studie: Wegen der traditionellen Konkurrenz zwischen der New Yorker Polizei und Feuerwehr herrschten bei den Rettungsarbeiten am 11. September chaotische Zustände. Auch funktionierten viele Sprechfunkgeräte der Feuerwehrleute schlecht oder gar nicht.

Hätte die Kommunikation zwischen Polizei und Feuerwehr besser geklappt, so ein Fazit des Berichts, wären weit weniger Helfer am Terrorort umgekommen. Insgesamt starben 343 Feuerwehrleute und 62 Polizisten. Viele der Beamten, die den Einsatz überlebten, sind schwer traumatisiert. In diesem Sommer gingen deshalb doppelt so viele Feuerwehrleute in den Ruhestand wie üblich.

Bei all den Schreckensbilanzen gibt es aber auch gute Nachrichten aus dem Katastrophengebiet. Der Exodus der Bewohner von Downtown Manhattan scheint fürs Erste zum Stillstand gekommen zu sein. Stand noch im Winter nahezu jede vierte Wohnung leer, liegt diese Rate inzwischen unter fünf Prozent. Mietsenkungen um bis zu 25 Prozent, die Herabsetzung der Stromkosten und steuerliche Vergünstigungen beim Wohnungskauf haben ihre Wirkung nicht verfehlt.

Normalisiert hat sich auch das Zusammenleben der New Yorker. Die gewaltige Hilfsbereitschaft, die in den Wochen und Monaten nach den Anschlägen das Leben in der Stadt prägte, hat deutlich nachgelassen. Die Kirchen sind wieder so gut oder schlecht besucht wie eh und je.

Meinungsumfragen ergaben indes, dass so viele Menschen wie zuletzt vor 14 Jahren das Miteinander der Rassen in der Stadt als unproblematisch und angenehm empfinden. Das Zusammenleben habe sich nach dem 11. September deutlich verbessert. Dieses Ergebnis kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Moslems noch immer mit Schrecken an die erste Zeit nach den Anschlägen zurückdenken, als sie bespuckt und beschimpft wurden. Und dass viele von ihnen noch heute Ressentiments spüren.

Moslems fühlen sich diskriminiert

Der Prediger Franklin Graham, Sohn des bekannten Billy Graham, hetzt öffentlich gegen den Islam, ohne dass ihm jemand entgegentritt. Araber, die schon lange in New York leben berichten, dass ihnen ihre Banken plötzlich erhebliche Schwierigkeiten bereiten und dass ihre Kinder in der Schule diskriminiert werden. Viele, die sich als Amerikaner fühlen, klagen zudem, sie seien es leid, ständig ihre positive Einstellung zu Amerika unter Beweis stellen zu müssen. Sie wollen endlich wieder nach vorne schauen.

Und was wird aus „Ground Zero“? Der Friedhof hat sich in eine Baustelle verwandelt. Was dort entstehen soll, ist aber noch immer nicht entschieden. Mitte Juli wurden die ersten ernst gemeinten sechs Entwürfe für eine Nutzung des Geländes wieder verworfen. Jetzt sollen im Planungsprozess erst einmal alle wichtigen Stimmen gehört werden. Klar sind bisher lediglich zwei Punkte: In keinem Fall soll die gesamte einst vorhandene Bürofläche ersetzt werden, und es wird auf dem Grundstück ein würdiges Mahnmal errichtet.

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