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Politik: Der Nachbar als Schurke

Wie Europa in türkischen Schulbüchern wegkommt

Wenn man den türkischen Schulbüchern glaubt, ist die Türkei von Feinden umringt. „Einige Staaten, die es auf unser Land abgesehen haben, wollen uns von innen her zerstören und teilen“, heißt es in einem Sozialkunde-Band für die siebte Klasse. Obwohl die Türkei seit Jahrzehnten nach Europa strebt und vom EU-Gipfel am 17. Dezember grünes Licht für den Beginn von Beitrittsverhandlungen erwartet, spielen Europa und europäische Staaten in den Büchern für die 14 Millionen türkischen Grund- und Hauptschüler häufig die Rolle von Schurken, die nichts anderes im Sinn haben, als die Türkei zu schwächen. Nur langsam ändert sich etwas in türkischen Klassenzimmern.

Den Nachbarstaaten der Türkei – und besonders dem langjährigen Erzrivalen und EU-Staat Griechenland – wird in den Schulbüchern offen vorgeworfen, die Zerstörung der türkischen Republik zu betreiben. Athens Ziel sei die Gründung eines Großgriechenlands, das unter anderem Istanbul und große Teile Anatoliens umfasse, heißt es in einem Buch. Viel mehr als über Europa erfahren türkische Schüler über die für die Außenpolitik ihres Landes weitgehend bedeutungslosen Turk-Republiken Zentralasiens. Was die EU ist, wie sie entstanden ist und wie sie funktioniert, wird in den Büchern auf einer halben Seite abgehandelt.

Die osmanische Vergangenheit der Türkei wird verherrlicht – aber nicht als Teil Europas präsentiert. Europa erscheine als Gebilde ohne Verbindungen zur osmanischen Geschichte, kritisierte die regierungsunabhängige Geschichts-Stiftung in einer Analyse der Schulbücher. Das Hauptziel der Bücher sei die „Indoktrination“ der Schüler.

Inzwischen ist selbst den Behörden in Ankara klar, dass sich etwas ändern muss. In den letzten Jahren seien bei einer systematischen Überprüfung der Schulbücher schon allerhand „böse Adjektive rausgenommen“ worden, sagt der deutsche Historiker Christoph K. Neumann, der an der Istanbuler Bilgi-Universität lehrt. Zudem wird in der Öffentlichkeit über den Inhalt der Schulbücher diskutiert.

Auch auf internationaler Ebene gibt es neue Ansätze. Deutschland und die Türkei vereinbarten im vergangenen Jahr so genannte Schulbuch-Gespräche, bei denen auch über Inhalte diskutiert werden soll; die Gespräche haben bisher aber noch nicht stattgefunden.

Das liegt auch daran, dass angesichts der Verhältnisse in der Türkei die unfreundlichen Europa-Passagen in den Schulbüchern ein untergeordnetes Problem der Bildungspolitik darstellen. In einem Land, in dem 600 000 Mädchen von ihren Eltern nicht zur Schule geschickt werden und in dem Lehrer so schlecht bezahlt werden, dass 200 000 Lehrkräfte fehlen, hat die Schulpolitik „andere Prioritäten als Geschichtsbücher“, sagt ein westlicher Diplomat in Ankara.

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